Während in Bayern die Regeln im Kampf gegen das Coronavirus jetzt schrittweise gelockert werden, gibt es jetzt Kritik an der bundespolitischen Strategie der Grenzschließungen nach Österreich und in die Schweiz. In einem offenen Brief an Bundesinnenminister Horst Seehofer bittet der Lindauer Landrat Elmar Stegmann gemeinsam mit den Landräten der Landkreise Bodenseekreis, Konstanz, Lörrach, Waldshut und Schwarzwald-Baar dringend darum, dass die Grenzen nach Österreich und in die Schweiz wieder aufgemacht werden sollen. Alle sechs Landkreise sind Anrainergebiete an die Nachbarländer. In der Grenzregion stellen die geschlossenen Grenzen demnach die Landkreise "vor vielfältige Probleme". Die Lebenswirklichkeit der Menschen sei zerschnitten, grenzübergreifende Familien und Beziehungen leiden, Arbeit, Schule, Studium sind erschwert.
Regeln für Grenzübertritte sind zum Teil nicht nachvollziehbar
Ein Kritikpunkt: Regeln zwischen Schweizer, österreichischer und deutscher Seite seien nur unzureichend abgestimmt, obwohl das Infektionsgeschehen "nahezu identisch" sei. Das betrifft unter anderem die Definition eines "triftigen Grundes" für einen Grenzübertritt. Bundes- und Landespolizei würden das "im Einzelfall (...) unterschiedlich bewerten". Es sei nicht nachvollziehbar, dass beispielsweise "zwischen Lindau und Lochau eine erhöhte Ansteckungsgefahr gegeben sein soll im Vergleich zu rein innerdeutschen Nachbarorten bzw. benachbarten Landkreisen." Grenzkontrollen und Einreiseverbote sind aus Sicht der sechs Landräte nicht erforderlich, um die Corona-Pandemie einzudämmen.
Sehr geehrter Herr Bundesminister, vielen Dank für Ihr umsichtiges Agieren in der Coronakrise. Die Containment-Strategie des frühen Erkennens und des Eindämmens der Infektionen hat sich in den letzten Wochen als der richtige Weg erwiesen. Auch wir haben mit dem frühen Erlass eines Veranstaltungsverbots noch vor dem Inkrafttreten von landesrechtlichen Regelungen und durch die sehr frühe Einrichtung von Testzentren unseren Beitrag hierzu geleistet. Gleichzeitig haben wir von Anfang an sehr gute Kommunikationsstrukturen mit den Krankenhäusern, der Ärzteschaft, den Hilfsorganisationen, Bundes- und Landespolizei, Feuerwehr so- wie Städten und Gemeinden etabliert. Mittlerweile sind wir durch dieses umsichtige Zusammenwirken auf Bundes-, Landes- und Kreisebene glücklicherweise in einer Phase angekommen, in der sich die Situation stabilisiert. Hier in der Grenzregion stellen uns die geschlossenen Grenzen zur Schweiz und zu Österreich vor vielfältige Probleme. Zum einen zerschneidet sie die Lebenswirklichkeit der Menschen, die grenzübergreifende Beziehungen und Familien haben, die im jeweiligen Nachbarstaat arbeiten, studieren oder zur Schule gehen oder deren Arbeits- oder Schulweg am Hochrhein und am Bodensee durch den jeweiligen Nachbarstaat führt. Geschwister und andere nahe Angehörige können sich weiter- hin grenzüberschreitend nicht treffen. Auch haben z.B. Schülerinnen und Schüler, die in Jestetten oder Altenburg wohnen und in Singen auf die Schule gehen, aufgrund des strengen Grenzregimes mit dem neuen Schulbeginn einen vor sechs Uhr beginnenden Schulweg, weil die üblichen Zugverbindungen durch die Schweiz nicht möglich sind. Zum zweiten ergeben sich aus den geschlossenen Grenzen große wirtschaftliche Nachteile auf allen Seiten. Vielfach sind zudem die Regelungen des Bundes und der Länder bezogen auf den Grenzübertritt nicht ausreichend aufeinander abgestimmt. So ist es zwar gestattet in die Bundesrepublik einzureisen, wenn jemand deutscher Staatsbürger ist oder einen triftigen Grund hat. Allerdings sind die triftigen Gründe nach Bundesrecht und Landesrecht wohl nicht ausreichend miteinander abgestimmt bzw. werden von Bundespolizei und Landespolizei im Einzelfall auch unterschiedlich bewertet. Hinzu kommen die davon wieder unterschiedlichen Regelungen zur Einreise auf Schweizer und österreichischer Seite. Die z.T. nur unzureichend abgestimmten Regeln zwischen Schweizer, österreichischer und deutscher Seite bringen die Polizeibeamtinnen und -beamten an der Grenze und auch unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in schwierige Argumentationssituationen und sorgen für erheblichen Unmut in der Bevölkerung. Gleichzeitig sind die Infektionsschutzregeln aufgrund des Corona-Virus in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland ähnlich, das Infektionsgeschehen ist nahezu identisch. Die Inzidenz in den Schweizer Grenzkantonen zu Deutschland liegt unter der unserer Landkreise; dasselbe gilt für Österreich. Es ist also nicht nachvollziehbar, warum z.B. ausgerechnet zwischen Konstanz und Kreuzlingen, dem deutschen und schweizerischen Laufenburg oder auch zwischen Lindau und Lochau eine erhöhte Ansteckungsgefahr gegeben sein soll im Vergleich zu rein innerdeutschen Nachbarorten bzw. benachbarten Landkreisen. Damit ist es aus unserer Sicht übrigens auch kaum vertretbar, die auf der Webseite des Bundesinnenministeriums dargestellte rechtliche Grundlage für die Einreisebeschränkungen (Art. 28 Schengener Grenzkodex) anzuwenden. Denn vor dem geschilderten Hintergrund kann nicht von einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit gesprochen werden, die explizit mit der Grenzsituation zu tun hat. Es herrscht eine Infektionslage, keine äußere Bedrohungslage. Im Übrigen bedeuten nach EU-Recht zulässige Kontrollen an der Grenze nicht Einreiseverbote. Leider geht die Akzeptanz der Corona-Regeln allgemein zurück, wenn die Regeln hinsichtlich ihrer infektionsschützenden Wirkung nicht unmittelbar einsichtig oder gar widersprüchlich sind. Dies halten wir für eine sehr gefährliche Entwicklung in einer Phase, in der es besonders darauf ankommt, den Infektionsschutz mit dem langsam wieder zunehmenden öffentlichen Leben in Einklang zu halten. Nur mit akzeptierten Regeln lässt sich die völlig richtige, langsame und schrittweise Öffnung durchhalten. Sehr geehrter Herr Minister, wir bitten Sie vor diesem Hintergrund dringend, die Grenze wieder zu öffnen und im engen Austausch mit unseren Schweizer und österreichischen Freunden das Infektionsgeschehen niedrig zu halten. Dafür sind Grenzkontrollen und Einreiseverbote nicht erforderlich. Im Raum Basel hat das Thema sogar eine trinationale Dimension, weshalb wir darum bitten, auch eine Perspektive für Grenzübertritte nach und von Frankreich zu erarbeiten, da das Leben der Menschen in der trinationalen Agglomeration Basel in allen Beziehungen eng verwoben ist. Wir bedanken uns bereits jetzt für Ihr Engagement im Interesse der Bürgerinnen und Bürger unserer Landkreise. Der Chef des Bundeskanzleramtes Helge Braun, der Innenminister des Landes Baden- Württemberg Thomas Strobl und der Innenminister des Freistaats Bayern Joachim Herrmann erhalten jeweils eine Mehrfertigung dieses Schreibens. Unterzeichnet von: Marion Dammann, Landrätin Elmar Stegmann, Landrat Sven Hinterseh, Landrat Dr. Martin Kistler, Landrat Lothar Wölfle, Landrat Zeno Danner, Landrat