Ein Schlag auf der linken Schiffsseite, ein Schlag rechts, dann gehen die Lichter aus, überall Schreie': Auch 16 Stunden später steht Paul Keller (19) noch ganz unter dem Eindruck des Geschehens. Die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus, als wolle er das schreckliche Erlebnis loswerden: "Alles war in Panik, Kinder kollabierten." Der Marktoberdorfer und sein Freund Christian Raffler (21) gehörten zu den 4232 Menschen an Bord der "Costa Concordia", die in der Nacht zum Samstag im Tyrrhenischen Meer vor der Toskana auf Grund lief und innerhalb kurzer Zeit schwerste Schlagseite bekam. Dramatische Stunden folgten. Aktuellen Meldungen zufolge kamen mindestens drei Menschen ums Leben, 40 werden noch vermisst. Es sollte für die Marktoberdorfer der letzte Abend an Bord des Luxusliners sein, eines der größten Kreuzfahrtschiffe im Mittelmeer. Eine Woche zuvor waren sie mit weiteren Allgäuern, die beim Heimenkircher Kreuzfahrtunternehmen Holdenried gebucht hatten, in Savona (Ligurien) an Bord gegangen, vor sich eine einwöchige Mittelmeerkreuzfahrt. 'Wir legten am Freitag in Civitavecchia ab, hatten top Wetter', erzählte am Samstag Paul Keller in einem Telefonat mit der AZ. Am Abend gab es noch ein leckeres Essen mit Spaghetti Bolognese, Kalbsschnitzel, Fruchtcocktail. Und dazu ein Bierchen. Gegen 21.30 Uhr seien sie nach unten gegangen, um die Koffer zu packen. Denn am nächsten Tag sollten sie in Savona wieder ausschiffen.
Die Gefahr gerochen
'Wir nahmen uns ein Bier mit in die Kabine, stellten es dort ab', so der 19-Jährige. Dann plötzlich zwei heftige Schläge, die das Schiff erzittern lassen. Die Flaschen mit dem Abschiedsbier rutschen zu Boden, Lichter erlöschen, panische Schreie. Dann die Durchsage: 'Ein technisches Problem, bitte Ruhe bewahren und in der Kabine bleiben.' Doch die Beiden trauen der Sache nicht, treten in den Gang: 'Wir sahen sofort, dass das Schiff total schief lag', berichtet Keller, der von Beruf Baugeräteführer ist und seine zweite Kreuzfahrt unternahm.
Der Hochseegigant, der 2008 schon die Hafeneinfahrt von Palermo rammte, bekam immer mehr Schlagseite. Die Ostallgäuer stürzten 'hoch zu Deck 14 zu den Rettungsbooten'. Vorsichtshalber hatten sie sich noch Schwimmwesten aus der Kabine geholt. 'Wir wurden aber sehr lange hingehalten, durften nicht in die Boote', schildert Keller ein miserables Krisenmanagement – 'dabei sank das Schiff immer tiefer'. Sie hatten aber Glück, waren sie doch weit vorne in der völlig verängstigten Menschentraube. So gelangten sie in eines der ersten Rettungsboote, die zu Wasser gelassen wurden. Bei anderen Booten habe es Probleme gegeben, 'die waren wohl eingerostet', vermutet Keller.
Und die Boote auf der anderen Schiffsseite ließen sich wegen der Schlagseite nicht lösen – da werden Erinnerungen wach an den Untergang der 'Titanic' vor genau 100 Jahren.
Zum Glück liegt die kleine Urlaubsinsel Giglio nur etwa 500 Meter von der Havariestelle entfernt. 'Nach fünf Minuten waren wir mit dem Rettungsboot dort', erzählt Keller. Es war etwa Mitternacht, als für die Geretteten in Porto San Stefano, dem Hauptort der Insel, die ersten Hilfsmaßnahmen anliefen. Kirche, Schule und ein Café wurden für sie geöffnet. Gegen 3 Uhr ging es dann mit der Fähre zum Festland. Dort sei die Hilfe 'sehr professionell organisiert' gewesen. Wohl über 100 Busse seien bereit gestanden, um die Geretteten in das 430 Kilometer entfernte Savona zu bringen.
Doch konnte die Allgäuer Gruppe zunächst nicht starten: Es fehlten einige Mitreisende. Von zweien habe man gewusst, dass sie sich in ärztlicher Obhut befanden. Von zwei anderen aber fehlt bislang jede Spur.
Die Eltern: 'Wir sind froh'
Am Samstagabend ging es dann mit einem von Holdenried extra gecharterten Bus zurück ins 600 Kilometer entfernte Marktoberdorf. Dort kamen sie gestern um 2.30 Uhr an, wurden direkt vors Haus gefahren. 'Ein toller Service', so Keller. Die Eltern warteten schon sehnsüchtig. Irmtraud und Karl Keller aus der Dr.
-Julius-Straße hatten erst von dem Unglück erfahren, als am Freitag 'um 23.15 Uhr das Telefon klingelte und Paul uns aufgeregt anrief'. 'Wir sind froh, dass es noch so glimpflich für Paul abging', sagte sichtlich erleichtert Irmtraud Keller der AZ: 'Das muss der Wahnsinn gewesen sein, was da ablief.'
Ihr Sohn muss sich nun neue Kleidung und eine neue Kamera kaufen. Paul Keller: 'Wir hatten unsere besten Sachen mit, schließlich machten wir eine Kreuzfahrt. Alles was ich bei der Rettung noch hatte, waren Uhr, Handy und Geldbeutel. Alles andere blieb zurück.'
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