Züge rattern vorbei. Reisende warten am Gleis auf den nächsten Allgäu-Express. An Steilhängen in der Nähe kleben Kletterer in den Wänden und Alphornbläser musizieren von den Gipfeln. Im Maßstab 1:87 kommt kein Zug zu spät. Viehscheid und Maifeier sind gleichzeitig. Neben dem Hauptbahnhof bettet sich eine pittoreske Dorflandschaft in die Flur. Für die Bauleitplaner vom Modelleisenbahnclub Oberallgäu-Kempten (MEC) hat die Fantasie keine Grenzen. Die meisten von ihnen erfüllen sich als Erwachsene einen Kindheitstraum. Doch sie sind eine aussterbende Gilde. Das Märklin-Set unterm Weihnachtsbaum: Gibt’s das eigentlich noch?
'Wenn die Väter nicht die Initialzündung für den Modellbau geben, wird das nichts', sagt Horst Göbel. Der 64-jährige Kemptener ist seit 26 Jahren im Vorstand des Clubs mit 103 Mitgliedern. Sein Sohn Oliver soll ihm nachfolgen. Beide haben Glück. Der Vater, weil er einen Nachfolger hat, der die Familientradition weiterführt. Der Sohn, weil er eine ganze Sammlung von Loks bekommt.
'Das Problem ist, dass das heute alles sehr teuer ist. Mindestens 100 bis 150 Euro pro Lok muss man rechnen. Ich habe Züge, die einmal 30 Mark gekostet haben und heute 3000 Euro wert sind.' Die Leidenschaft für Modellbau hat Göbel schon früh entwickelt, seine Nase an den Schaufenstern der Spielwarenläden platt gedrückt. Er war so fasziniert, dass er später seinen Berufsweg beim 'Original' – der Bahn – eingeschlagen hat.
Kritik an den Herstellern übt der Eisenbahner trotzdem. 'Die Modelle, die die Industrie herausbringt, sind nicht kindgerecht.' Zu filigran. 'Anfangspackungen mit Dampflokomotiven. Die gibt’s doch gar nicht mehr.' Seiner Meinung nach zieht man Kinder nur in den Bann, wenn sie die großen Originale sehen und begreifen können.
Dieter Maisel aus Immenstadt ist Göbels Stellvertreter. Er hat die Schaltungen der H0-Anlage des Vereins entwickelt. In einem antiken Zugwaggon am stillgelegten Heggener Bahnhof war sie erst kürzlich wieder zu besichtigen. 400 Meter Gleise mit 50 bis 60 Garnituren ziehen da ihre Schleifen. H0 bedeutet 'Halb Null', die Spurweite der Gleise und gleichzeitig der Maßstab 1:87. Der Marktführer für Wechselstromanlagen, der Göppinger Hersteller Märklin, hat 1935 diese Halbierung der Spur 'Null' eingeführt.
'In den großen Bürgerhäusern Anfang des 20. Jahrhunderts hatte man noch Platz. Da konnte man große 1:43-Anlagen aufbauen. Heute ist das nicht mehr so', sagt Maisel.
Doch selbst die zwei Quadratmeter, die eine H0-Anlage braucht, steht in Konkurrenz mit kleinen Tablet-PCs. Kinder, die in einer mit Kabeln statt Gleisen vernetzten Gesellschaft aufwachsen, sind schwer zum Modellbau zu bewegen. Dabei lerne man handwerklich viel bei der Bastelei. Maisel: 'Die Jugend hat mangelhafte Fähigkeiten im Handwerk. Viele können nur noch den Stecker in die Dose schieben.'
Die Kinder im MEC sind zwischen zehn und 14 Jahren alt. 'Davor sind H0-Anlagen zu klein. Danach kommt die Pubertät. Wir sehen sie erst wieder, wenn sie selbst Kinder haben', sagt Göbel, der Weihnachten perfekt findet, um mit dem Modellbau zu beginnen. 'Wer soll solche großen Geschenke bringen, wenn nicht das Christkind?'
Horst Göbel