Was zieht man eigentlich an, wenn man die Netrebko in der 'Met' sehen will? 'So mittelschön', meint meine Freundin Sabine, die die Karten für den Opernabend besorgt hat. Denn wir fahren natürlich nicht nach New York in die weltberühmte Metropolitan Opera, sondern ins Memminger Gewerbegebiet, besser gesagt ins Cineplex-Kino, um – immerhin live – bei einer Aufführung von Gaetano Donizettis „Anna Bolena“ dabei zu sein.
Und wir liegen genau richtig mit unserer Kleiderwahl. Denn das Publikum, das an diesem Abend in den großen Saal strömt, hebt sich doch deutlich ab von den anderen Kinogängern. Nicht nur, was den Altersschnitt betrifft, Mann trägt häufig Sakko und auch die Frauen haben größtenteils auf dezenten Chic gesetzt. Dem trägt auch das Kino Rechnung, zum Empfang werden an einem eigens aufgebauten Tresen Sekt und Käsehäppchen gereicht, in der Pause gibt es Kanapees.
Noch ist die Leinwand dunkel, aber eine 'echte' Sopranistin im langen Kleid, Michaela Greif, gibt eine kleine Einführung in Donizettis hochdramatisches Werk über die unglückselige zweite Gemahlin des englischen Königs Heinrich VIII.
Dann die ersten Szenen direkt aus New York: nach dem Schwenk über die Reihen und Balkone für 3900 Zuschauer geht es direkt in die Garderobe von Superstar Anna Netrebko, die dort – bereits geschminkt und im Kostüm – locker über ihre anspruchsvolle Rolle plaudert. Das und auch die später in der Pause folgenden Interviews etwa mit Kostümbildnerin Jenny Tiramani oder Dirigent Marco Armiliato sind eine ebenso überraschende wie höchst informative Beigabe zur Live-Übertragung.
Ungewöhnliche Einblicke
Auch die Kamerablicke in den Orchestergraben zeigen Szenen, die den Opernbesuchern in New York verborgen bleiben.
Armiliato hebt den Taktstock – und nun beginnt sie, die fast vierstündige Aufführung, ein opulentes Festmahl für Augen und Ohren: Man kann sich kaum sattsehen an den unglaublichen (Nah)Aufnahmen, die zwölf Kameras über Satellit gleichzeitig in Städte auf der ganzen Welt schicken, an der hochspannenden Handlung, die dank deutscher Untertitel stets gut zu verfolgen ist, an den prächtigen Kostümen, wie von Hans Holbein gemalt. Und erst 'la Diva': Das ist schon ein Naturereignis, wie die Starsopranistin, die Bühne füllt, wie sie als funkelnde Königin ihren tragischen Weg bis hin zum Schafott geht, wie sie nach einer letzten vokaldramatischen Offenbarung mit offenem Haar zur Hinrichtung schreitet: Das ist nicht nur ganz große Oper, sondern auch ganz großes Kino.
Natürlich müssen sich die Ohren erst an die Lautstärke der mittels Spezialmikrofonen übertragenen Stimmen gewöhnen (in der Pause wird der Ton auf Nachfrage etwas leiser gestellt), aber den nicht ganz hundertprozentigen Klang macht das Funkeln in Netrebkos Augen allemal wett. Schade nur, dass das Memminger Publikum in den New Yorker Jubel über die atemberaubende Aufführung nicht einmal mit einem kleinen Applaus einstimmte.
Termin Im Cineplex sind bis April noch sieben weitere Opern zu sehen, die nächste ist am Samstag, 29. Oktober, 'Don Giovanni'.