'Das macht doch nichts, dass wir die Geschichte schon kennen. Dafür sind Geschichten doch da, dass man sie wieder und wieder erzählt', beschwichtigt Ilse die gereizte Hochzeitsgesellschaft. Was bei Tisch an Familienfesten enervierend sein kann, ist das unerlässliche Futter des Theaters. Auch in Roland Schimmelpfennigs Stück 'Hier und Jetzt', uraufgeführt 2008 in Zürich, wird eine uralte Geschichte einfach wieder neu erzählt: die Geschichte von Untreue und Ehebruch. Die Theatergruppe 'AllgäuPfeffer' legt im Theater-Oben des Kemptener Stadttheaters unter der Regie von Josef Faller eine beeindruckende Ensembleleistung hin, die von der Spannung zwischen Musical-Plattitüden und der Kraft griechischer Tragödien lebt.
Starke Rhythmisierung ist das wichtigste stilbildende Prinzip der Inszenierung eines Stückes, das ja kein dramatischer Text als solcher ist. Es ist eher ein Netzwerk aus poetisch-skurrilen Naturbeschreibungen, realen Szenen und Erzählungen über das Ehebruchsdrama sowie Dialogfragmenten, die oft nur angerissen, verworfen und an anderer Stelle wieder aufgenommen werden. Rollen überschneiden sich oder werden chorisch gesprochen. Dazwischen setzt die Regie Lieder, meist englische, thematisch aufs Geschehen bezogene Evergreens, vom Ensemble live gesungen und gespielt.
Die Dekadenz der Hochzeitsgesellschaft findet als Materialschlacht auf der Hochzeitstafel statt. Volle Spaghetti- und Suppenschüsseln, Trauben, Brot, Häppchen und haufenweise Gläser türmen sich darauf. Man hält sich ans Essen und Saufen, um nicht zu schlagen, um nicht zu offensichtlich seinen Nachbarn zu begehren oder einfach nur, um nicht laut aufzuschreien.
Eine strickende Frau (Julia Hackenberg) fragt in zuverlässigen Abständen ihren Säugling im Kinderwagen: 'Na, und was sagst du dazu?' Eine junge Frau (Susanne Betz) in zerrissenen Strumpfhosen, will unflätig und rülpsend unbedingt anders sein. Ingrid (Gabriele Sodeur) zieht über andere her, während sie sich ziemlich eindeutig an ihrem viel zu jungen Tischnachbarn vergreift. Ilse (Beate Schmid) versucht vergeblich die Contenance zu wahren, die eigene und die der ganzen Gesellschaft.
Absurd, skurril und überdreht sind oft die Figuren, aber nie das Spiel. Alle arbeiten sie gegen Alter, Verfall und Tod. 'Hier und Jetzt' ist ein Stück über die Sehnsucht nach Leben. Vor allem verkörpert durch Katja (Ulrike Rogg), die sich von ihrem Mann Georg (Wolfgang Hebenstreit) nicht mehr begehrt fühlt. Im Elektromarkt wird sie Martin (Ulrich Welz) verfallen. Triefend vor Ironie der Kampf zwischen Georg und Martin als Ritterkampf, stellvertretend ausgetragen von Tilo (Andreas Werner) und Peter (David Welz, auch an der Gitarre) mit überdimensionierten Schwertern.
Der Dauerbrenner, auch des Publikums, war das Schwärmen Lothars (Rainer Lenzenhuber) von drallen Weiberärschen. Die Natur des Menschen bleibt eben immer gleich, nur die Gefühle wechseln wie die Jahreszeiten. Und der Tod in Gestalt eines Totenkopfes weilt dabei die ganze Zeit unter ihnen. Wie eine heiße Kartoffel wandert er von einem zum anderen, trägt Ilses lila Hut und bleibt am Ende bei Martin, der ihn küsst.
Ein etwas zu langer Theaterabend voller bedeutungsschwerer Requisiten und musikalischer Leichtigkeit. Langer Applaus für Regie und Ensemble.
Weitere Aufführungen am 30. September (20 Uhr), 1. Oktober (19 Uhr) und 2. Oktober (16 Uhr). Karten bei der Allgäuer Zeitung, Telefon 0831/206-222.