'Hier bin ich gerne', sagt Dr. Rainer Jehl und zeigt auf den kleinen Schreibtisch, der eingezwängt zwischen zwei Dachschrägen steht, beladen mit Büchern. Gerade mal einen Meter breit ist er und nicht sehr tief. Aber das Tischlein, so unkommod es sein mag, besitzt einen unschätzbaren Vorteil:
Von hier aus hat Jehl eine wundervolle Sicht auf die Ostallgäuer Berge, den Aggenstein, den Breitenberg und auch, etwas weiter links, auf den Säuling. Er lasse gerne den Blick in die Ferne schweifen, sagt Rainer Jehl. Vor allem wenn er mit dem Füllfederhalter in der Hand Eintragungen in sein Tagebuch macht. Oder beim Lesen pausiert und seinen Gedanken nachhängt. Aber es gibt in seiner Doppelhaushälfte an Kaufbeurens Stadtrand noch eine Reihe anderer Plätze, wo er schreibt, liest und nachdenkt – kurz gesagt: wo er arbeitet.
Eigentlich müsste Rainer Jehl nicht mehr arbeiten. Seit zwei Jahren ist der 67-Jährige im Ruhestand, nachdem er 25 Jahre lang als Direktor die Geschicke der Schwabenakademie in Irsee bestimmte. Was aber vorauszusehen war: Es würde ein Unruhestand werden. Rainer Jehl macht nun, fünf Kilometer von seiner ehemaligen Wirkungsstätte entfernt, da weiter, wo er aufgehört hat: Er vermittelt Kunst, Kultur und Bildung.
Jetzt allerdings auf andere Art.
Jehl spricht von einer neu gewonnenen Freiheit nach einem ausgefüllten Berufsleben. Von dieser neuen Freiheit profitiert eine alte Leidenschaft von ihm: die Philosophie. Sie studierte er einst (neben Theologie, Romanistik und Germanistik), in ihr promovierte er (über den Begriff der Melancholie im Mittelalter). Dann aber war er vor allem Manager und Familienvater. Jetzt kann er sich ihr wieder ganz widmen.
Was Jehl mit gleicher Energie anpackt, wie er schon in Irsee neue Projekte auf die Beine stellte. Sein jüngstes – und liebstes – Kind sind die Seminartage 'Philosophie am Pass in Bad Hindelang'.
Nach einem vielversprechenden Start 2011 geht es im Sommer 2012 in die zweite Runde.
Es ist aber nicht so, dass Jehl nur sein persönliches Steckenpferd reitet. Das Philosophieren ist wieder im Kommen, nachdem sie lange Zeit im Elfenbeinturm der Wissenschaft und in Insiderkreisen ihr Dasein fristete, sagt er. Immer mehr Menschen suchten Rat und Trost auf ihrer Suche nach einem guten, richtigen, vernünftigen Leben. Jehl: 'Mich interessiert vor allem eine Philosophie, die auf die Lebenspraxis abzielt.' Jehls Absichten und sein Wissen sind nicht nur in Bad Hindelang gefragt. An den Volkshochschulen in Kaufbeuren, Bad Wörishofen und Illertissen gibt er Philosophiekurse.
Der Ruhestand lässt dem geisteswissenschaftlichen Tausendsassa aber noch jede Menge anderer Freiheiten. Jehl, der vor 25 Jahren den Irseer Kunstsommer mitgründete, eröffnet Ausstellungen, fertigt Essays über Künstler oder urteilt in Kunstjurys. Beim Irseer Literatur-Wettbewerb 'Pegasus' mischt er nach wie vor mit. Weiterhin hält er Seminare. Und auch die Musik lässt ihn, der 1993 das Festival 'Klang & Raum' mit aus der Taufe hob, nicht los. Zwar hat er kein aktuelles Projekt am Laufen. 'Aber auch da werde ich wieder was tun.'
Jehl ist einer jener Geistesmenschen, die immer wieder Neues entdecken und Dingen auf den Grund gehen wollen. 'Das gibt mir ein großes Glücksgefühl', sagt er und fügt lächelnd an: 'Es ist schön, eine Rente zu haben, damit man sich auf solche Weise beschäftigen kann.' Dass er die eine oder andere Lücke nicht mehr schließen kann, nimmt er – mehr oder weniger zähneknirschend – hin. Etwa ein Musikinstrument zu spielen. Oder Arabisch zu lernen.
Rainer Jehl weiß aber auch, dass der Geist in einem Körper sitzt. Deshalb versucht er, sich gesund und fit zu halten mit Joggen, Gymnastik, Ausdauertraining, Skifahren und Wandern. Er geht auch gerne in die Berge – er schaut sie sich nicht nur von seinem kleinen Schreibtisch im Dachgeschoss aus an.
Ein Lieblingsplatz von Dr. Rainer Jehl: der Schreibtisch mit Blick auf die Ostallgäuer Berge. Ihm sind Bücher allerdings noch lieber als Berge. Foto: Jörg Schollenbruch
'Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens wird die Philosophie für viele Menschen wieder interessant. Diese Wiederentdeckung möchte ich befördern.'