Was vermittelt das Vorlesen? Diese Frage steht auf einer großen Papierblume, die in der Stadtbücherei Lindenberg an der Wand hängt. Die Antworten sind auf die Blütenblätter geschrieben: Zeit, Zuwendung, innere Bilder, Kreativität, Vertrauen. Die Buben und Mädchen, die sich vor der Blume versammlen, können die Begriffe gar nicht lesen. Sie interessieren sich auch nicht für die pädagogischen Hintergründe der Vorlesestunde bei Gisela Dobler. Was sie hier finden: Unterhaltung, Spannung – und oft recht ungewöhnliche Freunde. Heute ist es der Kater Malcolm, mit dem Gisela Dobler ihre kleinen Gäste bekannt macht.
Zwei Mütter, eine Erzieherin, fünf Buben und ein Mädchen haben es sich auf den Hockern und Stufen in der Bücherei bequem gemacht. Meist kommt eine größere Runde zusammen – rund zehn Kinder sind es zur Zeit – aber an diesem Nachmittag haben wohl die Schneemassen einige Bücherwürmer vom Weg hierher abgehalten.
Seit über zwölf Jahren schart Gisela Dobler einmal im Monat nachmittags Kinder ab vier Jahren um sich und liest ihnen aus Kinderbüchern vor – besser: Sie nimmt sie mit in die Geschichten. Die Stunde beginnt mit dem zarten Klang der Zimbeln, die Dobler behutsam aneinander schlägt.
Dann beugt sie sich leicht vor, blickt mit großen Augen in die Runde, hält einen Finger vor den Mund und sagt mit leiser Stimme: 'Psst – ein Geheimnis!'
Das Geheimnis, von dem die Vorleserin spricht, betrifft den sympathischen Kater Malcolm und seine Freundin Marie, die nur zu gerne wissen möchte, wo sich ihr vierbeiniger Freund Nacht für Nacht rumtreibt. Und auch die kleinen Westallgäuer interessiert dieses Rätsel brennend. Doch ganz so einfach macht es ihnen Gisela Dobler nicht. Immer wieder stellt sie Fragen, lässt die Kinder raten: Wie es Kater Malcom wohl anstellt, dass Marie mit ihm durch die Katzenklappe schlüpfen kann, oder welches Kleid sich das Mädchen für das versprochene Fest anzieht. 'Das Prinzessinnenkleid!' ruft aufgeregt die vierjährige Stella und springt vom Schoß ihrer Mutter.
Gisela Dobler blättert um, hebt das Bilderbuch in die Höhe – und tatsächlich, alle können es sehen: Marie hat sogar ein Krönchen auf dem Kopf.
Bei der Wahl der Bücher achtet Gisela Dobler darauf, zwischen allseits beliebten Geschichten wie dem Regenbogenfisch – 'die ziehen immer wieder' – und eher unbekannten wie 'Das Geheimnis' abzuwechseln. Sie kann aus einem riesigen Schatz schöpfen. 'Es gibt so viel wunderbare Kinderliteratur.' Immer mal wieder streut sie Bücher über Künstler ein. 'Das ist mir ein Anliegen', sagt die 49-Jährige, die sich selbst seit einigen Jahren künstlerisch betätigt und im Herbst ihre erste Ausstellung hatte. Mit Friedensreich Hundertwasser hat sie ihre Gäste im letzten Jahr bekannt gemacht, im nächsten soll es Niki de Saint Phalle sein.
Eine süße Maus
Die Kinder sollen nicht nur schauen und hören, wenn sie zu Gisela Dobler in die Stadtbücherei kommen, sondern auch selbst etwas tun. Malen, basteln oder – wie dieses Mal – tanzen. Der Katzen-Tatzen-Tanz ist Schluss- und Höhepunkt des Nachmittags. Oder ist es doch die leckere, süße Maus, die Dobler jedem ihrer Besucher zum Abschied in die Hand legt?
Die Vorleserin hat häufig Stammgäste in ihrer kleinen Geschichten-Oase: Buben und Mädchen, die regelmäßig kommen – nicht selten mitsamt ihren Mamas. 'Es sind immer wieder Kinder dabei, die werden später eifrige Büchereibesucher', sagt Gisela Dobler. Wenn sie dann erfährt, dass eine frühere Zuhörerin jetzt bei einem Literaturwettbewerb einen Preis gewonnen hat, macht sie das ein bisschen stolz.
Als Liebhaberin von Büchern im Allgemeinen und Lyrik im Speziellen tut sie nichts lieber, als andere mit ihrer Begeisterung anzustecken. Das ist ihr auch mit Kater Malcolm und seinem Geheimnis gelungen – und nebenbei hat sie die Versprechen der Blume erfüllt: Zeit, Zuwendung, innere Bilder, Vertrauen und Kreativität, all das haben ihre jungen Gäste auch heute erlebt.