Die Droge der 1970er-Jahre hieß Cannabis, die Suchtgefahr der 2010er scheint das Internet zu sein. Das jedenfalls könnte man schließen aus dem Drogen- und Suchtbericht, den die Bundesregierung jetzt vorgelegt hat.
Klaus Bilgeri, Stellenleiter der Suchtfachambulanz Lindau (das ist die Suchtberatungsstelle des Diözesan-Caritasverbands Augsburg) bestätigt auch für den Landkreis die deutschlandweiten Tendenzen. Und er sprach ein weiteres gravierendes Problem an: die Spielsucht. Herr Bilgeri, im Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung wird deutlich auf die steigende Gefahr der Internetsucht hingewiesen. Ist das in Ihrer Beratungsstelle ein Thema?
Klaus Bilgeri: Vereinzelt kommen Eltern zu uns mit dieser Fragestellung. Das Thema kenne ich allerdings mehr aus der Jugend- als aus der Suchtarbeit. Was Spielsucht anbelangt, haben wir hier in der Beratungsstelle eher mit Problemen in Richtung Glücksspiel und Spielotheken zu tun.
Ist die Abhängigkeit von Computerspielen und Internet Ihrer Meinung nach eine neue Erscheinung oder entsteht sie durch Verlagerung von Süchten?
Bilgeri: Das ist eine schwierige Frage. Es handelt sich wohl eher um ein neues Phänomen, entstanden durch die neuen Medien. Sie gehören ein Stück weit zu unserem Alltag, weil wir sie alle brauchen und nutzen. Junge Menschen wachsen damit auf – und wie alles, was so leicht verfügbar ist, kann das Internet eben auch zu Abhängigkeiten führen. Das Netz ist ja sehr verlockend: 200 Glückwünsche zum Geburtstag – eine tolle Sache. Von einer Verlagerung von Süchten kann man nicht unbedingt sprechen. Wobei natürlich auch bei Internetsucht eine gewisse Veranlagung oder Gegebenheiten im Umfeld vorliegen, die die Suchtgefahr allgemein verstärken.
Sie sprachen die Spielsucht an. Wie gehen Sie mit dieser Herausforderung um?
Bilgeri: Dieses Problem nimmt stark zu. Deshalb haben wir konzeptionelle Überlegungen angestellt, wie wir diese Menschen auffangen können. Es gibt inzwischen auch spezielle Angebote, etwa eine Gruppe in Lindenberg für Spielsüchtige. Hier können auch Menschen Platz finden, die ein Problem mit Online-Spielen haben. Die Spielsucht rückt bayernweit immer mehr in den Fokus. Kliniken wie ambulante Hilfseinrichtungen stellen sich dem Thema.
Sind bestimmte Altersgruppen stärker als andere von Spielsucht betroffen?
Bilgeri: Nein. Meiner Einschätzung nach ist es wie bei allen Süchten: Das geht beim Jugendlichen los bis hin zum Großvater. Online-Sucht gibt es natürlich mehr bei jungen Menschen.
Thema Alkohol: Laut Bundesregierung trinken weniger 14- bis 17-Jährige regelmäßig Alkohol als vor einigen Jahren. Gleichzeitig fallen Jugendliche nach wie vor durch Trinkexzesse auf. Wie passt das zusammen?
Bilgeri: Das passt deswegen zusammen, weil es zweierlei Phänomene sind. Jugendliche müssen sich ja immer ein bisschen distanzieren von der Erwachsenenwelt. Sie suchen dazu entsprechende Formen – und da ist exzessives Trinken eine Möglichkeit aufzufallen. Aber grundsätzlich ist unsere Gesellschaft ja kritisch und aufgeklärt, was die Gefahren des Alkohols anbelangt. Da greift die jahrelange Präventionsarbeit.
Eine weitere erfreuliche Nachricht enthält der Suchtbericht: Der Konsum von Tabak geht bei jungen Menschen deutlich zurück. Ist das Ihrer Meinung nach auch eine Folge des Rauchverbots im öffentlichen Raum?
Bilgeri: Ja, ganz klar. Heute bist Du als Raucher – in Anführungszeichen – Außenseiter. Es ist ein ganz anderes Bewusstsein in der Gesellschaft entstanden. Wenn ich heute in einer Klasse frage, wie viele rauchen, dann sind das vielleicht noch fünf Prozent. Vor ein paar Jahren waren es 30 bis 40.
Es wird auch weniger Cannabis konsumiert. Wie erklären Sie sich das?
Bilgeri: Das hat vermutlich auch mit der Erhebung zu tun. Da gibt es sicher eine große Grauzone – es ist halt immer die Frage, wo schauen die Behörden aktuell genauer hin. Wir in der Suchtberatung haben ja immer die Leute im Blickfeld, die konsumieren. Und da spielt Cannabis nach wie vor eine Rolle. Unsere Klienten erklären sich vielleicht bereit, auf Kokain oder Amphetamine zu verzichten – aber nicht auf ihren Joint. Das hängt auch mit der europaweiten, liberalen Einstellung zu Cannabis zusammen. Wenn ich mir dagegen anschaue, worum es bei denjenigen jungen Menschen geht, die wegen eines entsprechenden Delikts vor Gericht landen – dann ist heute häufiger Alkohol das Problem, früher war es mehr das Kiffen.
Im Zusammenhang mit Sucht ist oft erstmal von Jugendlichen die Rede. Wie würde ein Bericht über die Suchtprobleme bei Erwachsenen in Ihrem Wirkungsbereich aussehen?
Bilgeri: Unser Schwerpunkt ist und bleibt Alkohol – er macht 70 Prozent unseres Klientels aus. Das liegt daran, dass man sich mit Alkoholkrankheit relativ lange unauffällig im Alltag bewegen kann. Oft kommt das Problem erst heraus, wenn eine Behandlung wegen einer Begleiterkrankung notwendig ist. Die Menschen gehen lieber zum Hausarzt als zur Suchtberatungsstelle. Denn damit würde man sich schon outen. Die Abhängigkeit von Alkohol wird eben oftmals nicht als Krankheit akzeptiert, sondern als Charakterschwäche gesehen. Deshalb sucht man nicht so leicht eine Fachstelle auf wie etwa bei Depressionen.
Gibt es Unterschiede zwischen den bundesweiten Statistiken zum Drogenmissbrauch und dem, was Sie im Landkreis Lindau beobachten?
Bilgeri: Nein. Es geschieht grundsätzlich auf dem Land nichts anderes als in den großen Städten. Wir sind nicht auf einer Insel, es gibt hier alle Suchtmittel und viele abhängige Menschen. Deshalb lassen sich die bundesweiten Entwicklungen großteils auf unsere Region übertragen.