Alles liegt in Trümmern in jenem Sommer vor 80 Jahren. Deutschlands Diktator hat sich umgebracht, das sogenannte Dritte Reich hat kapituliert nach einem Weltkrieg mit Abermillionen Toten. Die entsetzten Sieger zeigen Bilder von Befreiten aus den NS-Lagern. Hunderttausende Entwurzelte irren durchs Land der Ruinen. Und mitten in diesen Wirren: der berühmte Schauspieler Will Quadflieg auf der Suche nach einem Neuanfang.
«Neues kündigt sich an, in vielerlei Weise, und es ist kaum in wenige Worte zu fassen», schreibt Quadflieg am 8. Juli 1945 im holsteinischen Heiligenhafen in sein Tagebuch. «Es wird wohl hier mitten im äußerlichen Zusammenbruch die neue Arbeit beginnen mit dem deutschen Herzdrama: Faust. Ich werde zunächst den Mephisto spielen.»
Quadfliegs Tochter Roswitha hat dieses bis dahin unbekannte Tagebuch des Schauspielstars, geführt vom Frühjahr 1945 bis zum Herbst 1946, im Nachlass ihrer Mutter entdeckt. «Eine kleine Sensation», findet die in Berlin lebende Schriftstellerin und Künstlerin. Sie hat unter anderem Michael Endes Bestseller «Die unendliche Geschichte» illustriert und selbst etwa 20 Bücher verfasst.
Beschrieben wird eine Lesereise in den letzten Kriegstagen - und der scheinbar bruchlose Übergang in die Zeit danach. Die Tochter nutzt die Vorlage für einen späten Dialog mit ihrem 2003 im niedersächsischen Osterholz-Scharmbeck gestorbenen Vater.
In ihrem Buch «Ich will lieber schweigen» stellt die 75-jährige Autorin die großen Fragen. Wie macht man nach einer solchen Katastrophe überhaupt weiter? Wo beginnt Opportunismus? Und was hätte ich getan?
«Ich wurde gefördert»
Will Quadflieg ist am Kriegsende Anfang 30. Seine große Zeit kommt erst noch. Ab Ende der 40er Jahre spielt er in Hamburg, Zürich oder Wien Goethe, Schiller, Shakespeare. In den 50er Jahren ist er «Jedermann» in Salzburg. Er macht Filme, spricht Schallplatten ein, tritt im Fernsehkrimi «Der Kommissar» auf und später im Mehrteiler «Der große Bellheim».
Begonnen aber hat seine Karriere in der Nazi-Zeit. «Er war einer der aufsteigenden Jungstars», sagt der Historiker Johannes Hürter vom Münchner Institut für Zeitgeschichte, Leiter eines Forschungsprojekts zum NS-Film. Nach seinem Filmdebüt 1938 habe Quadflieg schnell Hauptrollen bekommen, oft als sensibler, nachdenklicher junger Mann und Frauenschwarm. Zweimal gibt sich der Darsteller für Propagandafilme her, einer gegen Großbritannien und ein weiterer gegen die Sowjetunion.
Der Vater, eine «fremde Person»
Will Quadflieg spricht über die NS-Zeit später selbstkritisch. «Ich musste nicht emigrieren, ich wurde nicht verfolgt, sondern gefördert», sagt er einmal. Und auch dies: «Ich gehöre auch dazu, auch ich bin ein Mitläufer gewesen.» Diese Selbstreflexion, das schlechte Gewissen, sei für Künstler in der Nachkriegszeit ungewöhnlich gewesen, sagt Hürter.
Roswitha Quadflieg hinterfragt diese Reue. Sie ist die Jüngste von den fünf Kindern Quadfliegs mit der Schwedin Benita von Vegesack. Ihren Vater kannte sie nach eigenen Worten oberflächlich, zumal sich ihre Eltern Anfang der 60er Jahre trennten.
Hatte sie ein schwieriges Verhältnis zu ihm? «Ich hatte gar kein Verhältnis», sagt Roswitha Quadflieg. In ihrer Kindheit spielte der viel reisende Theaterstar kaum eine Rolle. «Dieser Vater war ja eine fremde Person.»
Vater war «kein Nazi»
Klar ist in der Familie, dass der Vater «kein Nazi» war. Das sagt Roswitha Quadflieg bis heute: «Der hat ja nicht gesagt: "Hitler war super und das war alles toll."» Nach eigenem Verständnis war er unpolitisch, ein Künstler, der allen Umständen zum Trotz seinen Beruf ausüben will.
In diesem Punkt erinnert die Geschichte an den Regisseur G.W. Pabst, dem der Schriftsteller Daniel Kehlmann seinen Roman «Lichtspiel» gewidmet hat. Gefangener und zugleich Nutznießer des NS-Regimes, eingebunden von den dunklen Mächten. «Wir können uns das nicht vorstellen, diese Mischung aus Repression und Entfaltungsmöglichkeit», sagt Historiker Hürter.
«Diese Denke aufgesogen»
An Will Quadflieg ging das aus Sicht seiner Tochter nicht spurlos vorbei. «Er hat eben doch diese Denke aufgesogen, diese Nazi-Denke, diese Herabwürdigung anderer, also diese Herrenmenschenhaltung», sagt die Autorin nach Auswertung des Tagebuchs und vieler Briefe. «Das hat mich gewundert.» An einer Stelle lässt er vage Bewunderung für die SS erkennen, an einer anderen äußert er sich abfällig über Polen oder zumindest missverständlich.
Und wie viele andere sieht er Deutschland nach den Bombardements und der Zerstörung als Opfer der Alliierten. «Die armen Deutschen», das sei auch die Haltung ihres Vaters gewesen, sagt Roswitha Quadflieg. Als Künstler empfand sich Will Quadflieg nach ihrer Einschätzung als «Vertreter der Guten», auf der Seite von deutscher Sprache, Dichtung und Denken: «Ich gehöre ja nicht zu denen da unten.»
«Ein Ministück Zeitgeschichte»
Roswitha Quadflieg ringt mit den Erkenntnissen aus dem Tagebuch und den Briefen ihrer Eltern, die sie mit Hilfe anderer Quellen akribisch nachrecherchiert und verglichen hat. Das Tagebuch ist für sie auch Liebesbrief an ihre Mutter, die sich mit ihren Kindern 1945 zeitweise aus dem kriegszerstörten Berlin nach Schweden in Sicherheit gebracht hat. Aber es sei auch ein «Ministück Zeitgeschichte, ein winziges Stück aus dieser großen Torte, die man Geschichte nennt», sagt Roswitha Quadflieg.
Ihr sei es nicht darum gegangen, ihren Vater vom Sockel seines Ruhms zu holen. «Vergolden müssen wir den nicht weiter, aber wir müssen auch nicht am Lack kratzen», sagt sie. Es gehe eher um die «Komplementierung einer Figur»: Was steckt alles drin in diesem Menschen?
80 Jahre nach jenem ersten Nachkriegssommer will die Tochter auch nicht Besserwisserin sein und ihren Vater aus heutiger Situation anklagen. Sie selbst sei ja auch nicht politisch engagiert, obwohl nicht klar sei, wo jetzt alles hinsteuere. «Ich sitze hier auf der Terrasse», sagt sie in ihrer Dachgeschosswohnung in Berlin-Mitte. «Mich fragt niemand, warum ich das hier mache. Mir wirft niemand vor, dass jetzt die Welt brennt, um uns herum.»




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