Die Reifen quietschen, wenn die Spieler auf engstem Raum stoppen oder wenden. Es kracht und scheppert, wenn ein Angreifer geblockt wird, Metall auf Metall prallt und Rollstühle kollidieren. Denn es kommt darauf an, dem Gegner den Weg zum Korb zu verstellen. Die Spieler der Behindertensportabteilung des TSV Sonthofen sind blitzschnell unterwegs. Manchmal kippt ein Rollstuhl.
Dann stützen sich die Basketballer mit den Händen ab, federn zurück und landen wieder auf den Rädern. Es gibt Schreie und Befehle, wenn der Gegner ins Zentrum unter dem Korb fährt. 'Passen, blocken, werfen', rufen die Spieler. Die Rollstühle flitzen von einer Spielhälfte zur anderen. Nach einer Stunde ist Schluss. 'Das erfordert gehörig Kondition. Aber es macht Riesenspaß', sagt Astrid Bokemüller und wischt sich mit den Händen den Schweiß von der Stirn.
Sie ist die einzige Frau unter den acht Rollstuhl-Basketballern des TSV. 'Der Sport gibt mir ein Stück Lebensqualität und ist ein wichtiger Bestandteil meines Leben', sagt die 53-Jährige. Seit einem Motorradunfall vor 32 Jahren ist sie querschnittsgelähmt. Die Regeln im Rollstuhl-Basketball sind einfach. Nach zwei Schüben an den Rädern muss der Spieler den Ball prellen, sonst gibt es Schrittfehler.
Der Ball kann gehalten oder auf den Schoß gelegt werden. Das Dribbling darf beliebig oft zum Anschieben unterbrochen werden. Wie beim 'normalen' Basketball hängt der Korb 3,05 Meter hoch. Astrid Bokemüller war schon immer sportlich. In ihrer Jugend ging sie radeln, schwimmen, zum Judo und spielte Fußball beim FC Rettenberg. Bis zum 9. Mai 1981. An diesem Samstag nimmt ihr Leben in Sekundenbruchteilen einen anderen Verlauf.
Es ist kurz nach sechs in der Früh, als die Sparkassen-Angestellte hinter ihrem Freund auf einer Suzuki 550 sitzt und von Sonthofen Richtung Marseille auf der A 7 zum Badeurlaub aufbricht. Auf der Ausfahrt in Neu-Ulm fahren die beiden in eine lang gezogene Linkskurve. Bei Tempo 60 gibt es plötzlich ein lautes Geräusch, 'als würde ein Stein gegen ein Blech schlagen', und einen Ruck, 'als würde jemand mit Gewalt die Maschine stoppen', sagt die damals 21-Jährige später bei der Polizei.
Das Motorrad stürzt. Astrid Bokemüller schlägt auf dem Asphalt auf. Sie will aufstehen, kann aber ihre Beine nicht bewegen. Ihr Freund bricht sich den linken Oberarm. Als ein Arzt, der zufällig am Unfallort vorbeikommt, die Verletzte in eine stabile Seitenlage bringen möchte, staucht sie den Hilfeleistenden zusammen. Er solle sie auf keinen Fall bewegen, schreit sie den Mediziner an. Sie ahnt, dass der Unfall schreckliche Folgen haben könnte. Kurz darauf erscheint der Krankenwagen.
Die gebürtige Immenstädterin wird auf eine Vakuummatratze gelegt und ins Krankenhaus nach Neu-Ulm gebracht. Nach 30 Minuten erscheint der diensthabende Arzt und klemmt die Röntgenbilder zwischen den Leuchttisch. Kompressionsfraktur zwischen dem fünften und siebten Brustwirbel. Das Rückenmark ist eingeklemmt, erklärt der Mediziner. Was das bedeutet, sagt er nicht. Und auf die Frage der 21-Jährigen, ob sie ein Leben im Rollstuhl führen muss, zuckt der Neurochirurg mit den
Schultern.
Hubschrauber nach Murnau
Noch am gleichen Tag wird Astrid Bokemüller mit dem Hubschrauber in die Unfallklinik Murnau geflogen. Dort muss sie zwölf Wochen lang in einem sogenannten 'Quaderbett' liegen, das den Körper fixiert. Wie eine Mumie, die schockgefrostet in einer Lage verharrt.
Dadurch sollen die Schwellungen im Rückenmarkkanal zurückgehen und sich das Rückenmark erholen. Alle vier Stunden wird die 21-Jährige gedreht, damit sie sich nicht wund liegt. Nach heutigem medizinischen Stand hätte man damals operieren und die Engstellen in der Wirbelsäule beseitigen müssen.
Doch Astrid Bokemüller nimmt die Tortur in Kauf und akzeptiert die zwangsverordnete Auszeit vom Leben. Es gibt Tage, da ist sie verzweifelt und heult einfach los, weil die Gedanken an ein Leben im Rollstuhl auch in der Nacht nicht verschwinden wollen. Aber sie beruhigt sich mit der Aussicht, dass vielleicht alles wieder wie vor dem Unfall werden kann. Falls nicht, werde sie das Schicksal annehmen. Ende Juli kommen drei Krankenschwestern ins Zimmer. Die 21-Jährige freut sich riesig, dass sie wieder aufstehen darf und sehnt den Augenblick herbei, ein paar Schritte gehen zu können.
Die Pflegekräfte richten die Patientin auf und stützen sie, damit sie nicht umfällt. Sie kann zwar mit Hilfe der Krankenschwestern stehen, aber die Beine bewegen kann sie nicht. Medizinische Tests ergeben, dass Astrid Bokemüller ab der Brustwirbelsäule gelähmt bleiben wird. Die oberen Extremitäten sind funktionsfähig, ebenso Blase und Darm. Die Immenstädterin ist geschockt, aber sie will bewusst und intensiv weiterleben. Denn ein Leben im Rollstuhl 'kann auch ein neuer, spannender Anfang sein', heißt ihre Devise. Sie schnappt sich noch am gleichen Tag einen Rollstuhl, fegt durch die Flure und den Garten in der Murnauer Klinik. Erst nach Stunden kehrt sie zurück in ihr Zimmer.
In den nächsten Wochen werden in der Physiotherapie Muskeln und Sehnen gedehnt und gekräftigt. Die 21-Jährige fährt zum Bogenschießen und zum Basketball. Sie lernt, wie man mit intensiver Krankengymnastik die eingeschränkte Bauch- und Rückenmuskulatur stabilisiert. Wie wichtig Sport ist, um wieder Freude und Spaß zu empfinden und das Selbstwertgefühl durch neue Erfolgserlebnisse zu stärken. Im Oktober darf sie endlich nach Hause, wo sie ihr Rehaprogramm fortsetzt. Ihr Leben hat wieder feste Strukturen. Im April 1982 geht sie wieder zur Arbeit bei der Sparkasse Sonthofen, zweieinhalb Tage pro Woche.
In ihrer Freizeit schwimmt Astrid Bokemüller, spielt Tennis und trifft sich mit Freunden und Bekannten. Auch privat ist einiges passiert. Von ihrem Freund hat sie sich nach ein paar Jahren getrennt. Sie lernt einen anderen Mann kennen und heiratet 1989, die Ehe wird sechs Jahre später geschieden. 1996 schließt sie sich den Rollstuhl- Basketballern des TSV Sonthofen an. Es ist Ende Oktober, ein warmer Herbsttag mit Temperaturen um 20 Grad im Oberallgäu. Astrid Bokemüller fährt mit ihrem Rollstuhl an den Tisch im Garten ihrer Wohnung in Sonthofen, Lebenspartner Klaus Schabert, mit dem sie seit neun Jahren zusammen ist, schenkt Kaffee ein.
Die 53-Jährige blättert im Fotoalbum. Mit dem Finger zeigt sie auf Bilder, auf denen sie mit einem Monoski am Hang der Skipiste in Ofterschwang steht. Sie berichtet von ihren Versuchen, den anfangs viel zu groß geratenen Ski zu bändigen. Sie lacht herzhaft, ihre dunklen Augen drücken viel Lebensfreude aus. Auch Fotos vom Tauchen und Wasserskifahren erläutert sie mit witzigen Kommentaren. Dann verstummt das laute Lachen.
Astrid Bokemüller spricht jetzt leise und langsam. Sie entdeckt Bilder, die Rollstuhlfahrer zeigen, die ein- oder zweimal zum gemeinsamen Sporteln kamen und dann nie wieder. Die 53-Jährige kennt Querschnittsgelähmte, die sich zu Hause einschließen, nicht mehr unter Menschen gehen und depressiv geworden sind. Natürlich hätten auch ihr viele gesagt, wie schwer ihr Leben werden würde. 'Aber es liegt ja in meiner Hand, wie schwer es werden wird', antwortete sie den Pessimisten.
Die Krankheit akzeptieren
Es sei ein großes Vorurteil, dass Behinderte unglücklich seien. 'Nur wenn du die Krankheit akzeptierst, ist sie nicht mehr die Hauptfigur in deinem Leben', hat Astrid Bokemüller herausgefunden. 'Ich kann doch fast alles machen. Ich bin nicht behindert. Ich kann nur nicht gehen', sagt sie. Und jenen, die unsicher sind, ob sie ihr helfen sollen, wenn sie aus dem Auto in den Rollstuhl steigt oder die Straße überquert, gibt sie folgenden Tipp: 'Einfach fragen. Wer Hilfe braucht, der wird es sagen.' Aber meistens sagt Astrid Bokemüller höflich Nein.
Denn es sei ein gutes Training für die Muskeln, wenn sie mit den Händen ihren Rollstuhl anschiebt. Menschen ohne Einschränkungen gehen ins Fitnessstudio. 'Für uns ist der Rollstuhl ein Trainingsgerät.' Augenöffner für das Bewusstsein 'Eigentlich hätte mir nichts Besseres passieren können', meint die 53-Jährige. Die Querschnittslähmung war der Augenöffner für das eigene Bewusstsein. Durch die Folgen des Unfalls sei sie viel selbstbewusster geworden und würde sich mehr zutrauen. 'Als kleines Mädchen wurde ich erzogen, still zu sein, wenn Erwachsene sprechen.
Mir wurde vermittelt, dass ein Kind nichts kann', sagt Astrid Bokemüller. Jetzt stehe sie als Rollstuhlfahrerin im Mittelpunkt und müsse Entscheidungen treffen. 'Ich kann mich nicht mehr wie früher verstecken', beschreibt die Angestellte ihren Alltag. Sie hat gelernt geduldig zu sein und Ruhe zu bewahren. Und Dinge aus einer anderen Perspektive einzuordnen, zwischen wichtig und unwichtig zu entscheiden. Wichtig sind ihr vor allem die wöchentlichen Trainingsstunden mit den Rollstuhl-Basketballern des TSV Sonthofen. 'Der Sport ist eine Quelle, die meinem Leben wieder einen Sinn gibt', sagt Astrid Bokemüller.
Viele Kontakte Mit ihren Sportkollegen geht die Oberallgäuerin hin und wieder in den Biergarten, trifft sich zum Grillen und pflegt über den Sport hinaus Kontakt. 'Du kannst zerbrechen oder wieder am Leben teilnehmen', macht die 53-Jährige anderen Querschnittsgelähmten Mut. Sie hat sich schon vor 32 Jahren konsequent für die letztere der beiden Optionen entschieden