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Wunde Seele nach Kugelhagel

Leutkirch

Wunde Seele nach Kugelhagel

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    Es gibt Ereignisse, die sind mit normalem Verstand nicht zu erklären. Wenn Wolfgang Seliger seine Lebensgeschichte erzählt wie zuletzt beim Talk im Bock in Leutkirch (württembergisches Allgäu), dann rätselt man als Zuhörer, wie es sein kann, dass der 53-Jährige unter uns weilt. Vor 33 Jahren war er so gut wie tot.

    Es war der Morgen des 3. Mai 1977, ein Dienstag in Singen am Bodensee, als Polizist Seliger am Boden lag und RAF-Terrorist Günter Sonnenberg, über ihn gebeugt, das Magazin seiner Großkaliber-Waffe leerschoss. Wenige Meter daneben lieferten sich Terroristin Verena Becker und ein anderer Beamter einen Schusswechsel. Sieben Kugeln trafen den damals 20-jährigen Seliger, und als er Stunden später ins Krankenhaus gebracht wurde, prophezeiten ihm die Ärzte eine Überlebenschance von zehn Prozent. Wolfgang Seliger hat diese Minimalchance genutzt. Zwei Finger an der rechten Hand fehlen, aber das ist das kleinere Übel. Was schwerer wog: Er kam zehn Jahre nicht zur inneren Ruhe. "Wenn es bei einem Gewitter am Himmel blitzte", erzählt er, "bekam ich Krämpfe in Armen und Beinen." Die äußeren Wunden heilten, die Psyche erholte sich kaum.

    Inzwischen aber kann er über jene Dinge reden, die sein Leben maßgeblich bestimmt haben: den RAF-Terror der 70er Jahren; über die Festnahme von Becker und Sonneberg am 3. Mai 1977; über die Zeit danach, als er zum Personenschutz für Richter und Staatsanwälte in Stammheim und Karlsruhe abkommandiert wurde. Und auch über seine Gefühle in diesen Tagen, wenn am 30. September ein weiterer Prozess gegen Verena Becker eröffnet wird - wegen Mordes an Generalbundesanwalt Siegfried Buback.

    Seliger wäre es ganz recht, wenn er nicht zum Prozess als Zeuge geladen würde. Leute wie Verena Becker haben ihm und seinem privaten Umfeld schließlich heftig zugesetzt. Die sieht man nicht gerne. Und doch sagt er: "Mir ist es egal, ob sie verurteilt wird. Ich schaue auf mich und bin dankbar, dass ich den Kugelhagel überlebt habe."

    Seliger ist mit sich und begnadigten Terroristen von damals im Reinen, so scheint es. "Vergessen könne er natürlich niemals," stellt er im vollbesetzten Leutkircher Bocksaal fest, wo die Leute über zwei Stunden lang hochkonzentriert an seinen Lippen hängen, als er eine schier unglaubliche Geschichte erzählt. Aber verarbeiten.

    Und auf die finale Frage von Moderator Bernd Dassel, ob er Becker die Hand reichen würde, wenn sie ihn beim Prozesses in Stammheim um Vergebung bitten würde, antwortet er nach langer Überlegung: "Ja, ich glaube schon."

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