Es ist kurz nach Mitternacht, als 'Pull' so richtig loslegt. Das Festzelt auf dem Untrasrieder Fußballplatz bebt und dampft. Die Coverband haut bei dem Liquidos Hit 'Narcotic' voll in die Saiten und das Publikum hüpft, schreit und tobt - tausende schweißgebadete Menschen, ausgepowerte Menschen. Es ist Rockfrühling in Untrasried.
Sechs Stunden vorher war das kaum vorstellbar. In dem kleinen Dorf im Ostallgäu geht alles scheinbar seinen gewohnten Freitagabend-Gang. Es ist ruhig und beschaulich - fast idyllisch. Auf den Straßen ist kaum etwas los und es duftet nach Landluft. Die Kirchturmuhr schlägt Viertel nach sechs, ein älterer Herr genießt die Abendsonne vor seinem Haus. Ein paar Ecken weiter befreit eine Frau ihren Hof von den letzten Resten des Winters. Und auch im Festzelt etwas außerhalb des Ortes deutet noch wenig auf das hin, was da kommt. Es ist fast leer. Nur ein paar Techniker machen mit der zweiten Band des Abends, 'McSunday', den Soundcheck.
Helmut Gerle lehnt entspannt an der Theke im hinteren Teil des Zeltes. Von Nervosität ist bei dem Mann, bei dem die Fäden zusammenlaufen, keine Spur. Obwohl schon in zwei Stunden die Massen strömen werden. Der 29-Jährige mit den braunen Haaren und dem leicht wippenden Gang ist Mitverantwortlicher des Rockfrühlings, der zum elften Mal stattfindet.
Gerle war von Anfang an dabei. Vor zehn Jahren startete auf einer Wiese am Ortsrand der erste Rockfrühling auf Initiative der Landjugend. Schon damals kamen überraschend für alle fast 4000 Besucher. 'Damit hat überhaupt keiner gerechnet', erzählt Gerle und nippt an seinem Kaffee.
Jeder im Dorf ist irgendwie dabei
Seit damals hat der Rockfrühling seine Besucherzahlen stetig gesteigert - diesmal sind es nach Angaben des Veranstalters über 10 000 Menschen an zwei Abenden.
Für die Dorfgemeinschaft lohnt sich das Unternehmen mittlerweile richtig. Die Erlöse wurden nicht nur guten Zwecken gespendet, sondern auch in die örtliche Infrastruktur investiert. Die fünf großen Vereine des Ortes - Feuerwehr, Schützen, Sportverein, Musiker und Landjugend - stemmen das Ereignis gemeinsam. 'Jeder der ungefähr 300 Helfer ist in mindestens zwei Vereinen', schätzt Gerle. Und jeder im Ort ist in irgendeiner Weise am Rockfrühling beteiligt.
Kurz nach dem offiziellen Einlass um 20 Uhr kommen die ersten Partybegeisterten. Fast 5000 werden es an diesem Freitagabend sein. Noch läuft der Sound vom Band - Bob Marley and The Wailers. Doch nicht mehr lange wehen Reggaeklänge durch das Zelt. 'Mc Sunday' eröffnet den Abend. Während ihres ersten Auftritts - jede Band hat pro Abend zwei Auftritte plus einen auf der Unplugged-Bühne in den frühen Morgenstunden - merkt man, dass die Menge noch nicht ganz auf ihrem Spaßlevel angekommen ist, obwohl 'McSunday' mit alten und neuen Rockhymnen ordentlich auf die Pauke haut. Das Publikum mag noch nicht so recht. Marina Rauch findet es trotzdem toll: 'Die Leute hier sind so offen und die Stimmung ist super.' Für den Rockfrühling ist die 23-Jährige extra aus Ingolstadt angereist. Nicht ganz so weit musste der 20-jährige Johannes Benedikter aus Bad Grönenbach fahren. 'Ich war schon in den letzten Jahren hier und fand es super. Top-Bands', schreit er, bevor er sich auf ins Gedränge macht, um vor die Bühne zu kommen. Dort hat inzwischen 'Pull' angefangen und den Lautstärkepegel noch mal nach oben geschraubt. Nun ist die Stimmung von der Bühne ins Publikum geschwappt.
Für Helmut Gerle waren die Wochen und Monate vor dem Rockfrühling die anstrengendsten. Jetzt, um kurz nach zwei Uhr nachts, kümmert er sich nur noch um ein paar Kleinigkeiten, die im Eingangsbereich anfallen.
An Schlaf ist an diesem Wochenende für ihn und viele Helfer aber kaum zu denken. 'Am Sonntagabend wieder', schmunzelt er.
Dann ist das Festzelt wieder verschwunden, alles von vielen fleißigen Helfern abgebaut und auch die Bands 'Shark' und 'Wanted' hatten am Samstag ihre Auftritte. Nur auf den Wiesen rund um das Dorf wird man noch die Spuren der geparkten Autos sehen.
Im kleinen Untrasried geht dann wieder alles seinen gewohnten Gang. Ruhig und beschaulich. Bis zum nächsten rockigen Frühling im nächsten Jahr. Dann wird es wieder laut. Zumindest für zwei Tage.