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Vor 100 Jahren lernten die Bilder im Allgäu laufen

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Vor 100 Jahren lernten die Bilder im Allgäu laufen

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    Von Ralf Lienert Kempten - Das Kino in Kempten wird gerade 100 Jahre alt. Die ersten Streifen flimmerten 1905 noch über eine Jahrmarkt-Leinwand. Doch dann besorgte sich der Gastronom Josef Seele einen Projektor und eröffnete im März 1907 in einer kleinen Bierhalle an der Iller das erste Lichtspielhaus im Allgäu. Heute füllen Harry Potter und der König von Narnia die Kemptener Kinosäle. Mit Popcorn und Cola ausgerüstet freuen sich ganze Familien über die Filme. Doch wie war das vor 100 Jahren? Ende November 1905 wirbt der Unternehmer Philipp Leilich in der Allgäuer Zeitung als 'Europas elegantestes und größtes Etablissement der Gegenwart' für seinen Riesen-Kinematograph. Dieser liefert nach eigenen Angaben in seinem Jahrmarktkino auf dem Königsplatz 'haarscharfe Projektion' ohne Flimmern und Zittern. Der Ton kommt erstmals aus einer Maschine, die laut Inserat 48 Musiker ersetzt. Auf dem Programm standen vor 100 Jahren auch Bilder vom Fischertag in Memmingen und als Höhepunkt der Festzug vom Turnfest 1905 in Kempten. Ein Publikumsmagnet, für den die Kemptener gerne 60 Pfennig Eintritt hinlegten. Unter den Gästen wird wohl auch Josef Seele gewesen sein. Der Wirt der 'Rosenau' hatte etwa Anfang 1904 das Gasthaus 'Rose am Rank' an der Ecke Füssener/Lenzfrieder Straße übernommen. Seele war weit über die Stadtgrenze hinaus bekannt als Allgäuer Herkules mit fast zwei Metern Größe und einem Gewicht von 138 Kilogramm. Einst war er größter und schwerster bayerischer Rekrut im königlichen Leibregiment. Er lehnte eine Beförderung zum Leibdiener von Prinz Arnulf ab, verzichtete auf sein Hoferbe und wurde Gastwirt. Im Februar 1904 reichte er die Pläne für eine Trinkhalle mit Kegelbahn und Biergarten ein. Dort schenkte er nicht nur Bier aus, sondern setzte geschäftstüchtig seine Kraft ein.

    Von seiner Frau Maria ('stärkste Dame des Allgäus') ließ er sich auf bloßer Brust Holzscheiter spalten oder hob einen Amboss mit 700 Pfund Gewicht. Immer wieder waren starke Kerle zu Gast und lieferten sich so manchen Ringkampf. Es gab Faschingsbälle, Konzerte und Theateraufführungen. Der Wirt erkannte die Bedeutung der laufenden Bilder und vergrößerte im Winter 1906 seine Bierhalle. Am 10. März 1907 spannte er erstmals eine Leinwand auf, lud nachmittags zum großen Konzert ein und rief gegen 20 Uhr dem Vorführer zu: 'Film ab', erzählt sein Enkel Rainer Seele. 300 Gäste verfolgten, wie sich der mächtige Lichtbogen-Projektor der Firma Mester ruckelnd in Gang setzte und ein elektrisches Klavier mit Lochstreifen-Mechanismus die Begleitmusik lieferte. Josef Seele nannte sich fortan 'Magnetopath'. Bald gab er die Kegelbahn zu Gunsten eines größeren Zuschauerraumes auf. Die Musik zu Filmen wie 'Die Schrecken des Vesuv' oder 'Der verliebte Neger' lieferte das erste Allgäuer 'Orchestrion', ein Universal-Musik-Instrument. Technikfreak Seele war auch begeisterter Autofahrer und brauste gern im zweisitzigen offenen Bugatti durch die engen Straßen der Altstadt. Josef Seele verkaufte sein Gasthaus an die Gebrüder Rittmaier von der Memminger Schiffbrauerei. Aus dem Kino wurde 1928 eine Autowerkstatt, die sein Sohn Ludwig (1903 - 1998) mit einer Tankstelle betrieb. Am 3. Febraur 1933 starb Josef Seele im Alter von 70 Jahren. Der Filmprojektor wurde um 1950 verschrottet. Enkelsohn Rainer Seele übernahm die freie Kfz-Werkstatt 1972. Neben der Rose am Rank gab es weitere Kinos in Kempten: Hübner’s Zentral-Kinotheater 'Gewerbehalle' (später Ka-Li), Bürgersaal-Lichtspiele 'Büli', Parktheater, FZ-Kino, Scala und Colosseum. Seit Juni 2003 gibt es nur noch das Colosseum-Center und das Burghalde-Kino, beide betrieben von den Familien Dietel und Sing.

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