Martin Walser grantelt vor der Lesung im Allgäu Auszüge aus neuestem Roman. Von Freddy Schissler Kempten 'Der literarische Reiz', beurteilte die Frankfurter Rundschau nach Erscheinen des neuen Romans von Martin Walser, 'liegt zugleich in Walsers ungeschützter Offenherzigkeit und im anekdotisch-humoristischen Reichtum, mit dem er sich (und uns) Familien-, Dorf- und Landschaftsszenen vor Augen stellt.'
'Ein springender Brunnen': Auszüge aus seinem neuesten Werk stellte Walser beim APC-Sommer in Kempten vor, und schon Stunden vor Beginn der Lesung durften die Verantwortlichen höchstselbst erfahren, dass eine Charaktereigenschaft dieses Schriftstellers tatsächlich erwähnte ungeschützte Offenherzigkeit ist.
Als Walser am späten Nachmittag den antiken Ort der Kleinen Thermen im Archäologischen Park Cabodunum betrat, um erste Mikrophon-Proben hinter sich zu bringen, gruben sich nicht nur tiefe Sorgenfalten in dessen Gesicht, sondern Walser geriet geradezu ins Granteln: 'Kein schöner Ort für eine Lesung.' Punkt, basta. Einer wie er will nicht lange um den heißen Brei herumreden, sondern sagen, wo ihn der Schuh drückt. Die Zuschauer saßen aus seiner Sicht zu weit weg, das Licht jenes Scheinwerfers, das ihn mitten ins Gesicht traf, war zu grell, das Licht im Besucherraum zu schwach.
Wahrlich, ein echter Martin Walser.
Dass der in Wasserburg am Bodensee geborene Schriftsteller nicht zu den Angepassten, Stillen und Bequemen in diesem Lande gehört, offenbarte er zum einen als Mitglied der legendären Gruppe 47, deren Preis er 1955 in Empfang nehmen durfte und in der er den linken Flügel mitverkörperte. Zum anderen an jenem Tag im Oktober 1998, als er in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt und anhob zu einer Rede, die noch Monate danach die Kultur- und auch politischen Teile der bundesdeutschen Zeitungen füllten sollte. Walser wehrte sich damals unter anderem gegen die 'Dauerpräsentation unserer Schande', wenn ihm täglich in den Medien die grauenhaften Auschwitzbilder vorgehalten würden. Walser am 11. Oktober 1998: 'Die Deutschen sind jetzt ein normales Volk.'
Als Erklärung, weshalb es eine Zeit gab, als diese Aussage nicht unwidersprochen hingenommen werden konnte, und wie es dazu kam, darf der Roman 'Ein springender Brunnen' angesehen werden. Walser besinnt sich seiner Kindheit, erinnert sich als 'kleiner Johann' an die Nachbarn in seinem Heimatort, an bestimmte Geschehnisse und an die Eltern, die in Wasserburg eine Gastwirtschaft namens 'Restauration' betrieben.
Womit wir bei der Mutter wären. Wie kündigte Martin Walser bereits 1986 an? Er verfolge den Plan, einen Roman mit dem Titel 'Der Eintritt meiner Mutter in die Partei' zu schreiben. Und: Wenn es ihm gelänge zu erzählen, weshalb die streng katholische Mutter einst in die Partei eingetreten sei, 'hätte ich die Illusion, ich hätte erzählt, warum Deutschland in die Partei eingetreten ist'.
Walser schildert in seinem dreiteiligen Werk unter anderem die Gründe, weshalb die Mutter irgendwann ein NS-Parteibuch in ihre Schublade legte. Aus politischen Beweggründen heraus? Mitnichten. Der Grund ist ein äußerst pragmatischer. Die Geschäftsfrau wittert eine lukrative Einnahmequelle für ihre Gastwirtschaft. Wenn die NS-Versammlungen in der 'Restauration' stattfinden, rechnet sie durch, lassen die Mitglieder dort einige Geldstücke liegen. Zudem vermasselt sie der Konkurrenz im Dorf ein Geschäft.
Walser trug an diesem Abend in den Kleinen Thermen drei Kapitel seines Werkes vor, und seine detailhaften Schilderungen darin, seine Sprache oft kompliziert, aber stets fesselnd wußten die Besucher zu bannen. Obgleich man sich einen besser gelaunten Martin Walser gewünscht hätte. Einen Walser, der den Abend in Kempten nicht nur als Pflichttermin hinter sich brachte.