'Nach Moskau! Nach Moskau! Nach Moskau!' Das ist in Altusried keine kämpferische Parole, sondern ein sehnsuchtsvolles Niedersinken auf den Tisch. Denn für das Ersehnte sind sie alle viel zu müde. Zu müde zum Weggehen.
Selbst zu müde zum Leben. Träge lastet diese Müdigkeit wie ein bleischwerer Schleier auf den 14 Menschen im Hause Prosorow in der russischen Provinz. Eine atmosphärisch wunderbar stimmige Inszenierung von Anton Tschechows 'Drei Schwestern', in einer Produktion des Musischen Zentrums Altusried, feierte im Theaterkästle Premiere.
Das handlungsarme Drama mit seinen aneinander vorbeiredenden Figuren ist schon für ein Profiensemble eine große Herausforderung. Regisseur Ulrich Schwab hat sich dieser mit teilweise herausragenden Amateuren gestellt – und sie mit Bravour bewältigt.
Seine Sorge, das Publikum würde sich nicht einlassen auf die zweieinhalb Stunden Gejammer über verpasstes Leben war unbegründet, hatte er dem doch mit einem unglaublichen Ausstattungsaufwand entgegengewirkt – samt Schneegestöber im zweiten Akt. So wird der Zuschauer 'mit Haut und Haar' ins russische Großbürgertum um 1900 hineingezogen.
Schwab setzt auf Illusion und psychologische Einfühlung. Im Hintergrund Birken, die mal von Blumen gesäumt, mal bedrohlich rot, mal verschneit oder kahl dastehen. Auf der Vorderbühne ein dunkelroter Salon mit Samtsofas, Stehpult, Porträts und Spiegeln an den Wänden und einem Klavier.
Darauf spielt Andrej (Pianist Ingmar Schwindt in seiner ersten Schauspielrolle), der den Traum vom Konzertpianisten und Wissenschaftler ad acta gelegt und eine Stelle bei der Verwaltung angenommen hat.
'Fremd und einsam'
Er fühlt sich 'fremd und einsam', vom Leben betrogen. Oberst Werschinin (Roland Wintergerst als einnehmender Lebemann) dagegen kann dem 'guten slawischen Klima' in der Provinzstadt viel Gutes abgewinnen. In ihn verliebt sich Mascha (Lisa Hartenstein, wundersam weltabgewandt und tragisch).
Für ihren Mann Kulygin (Klaus Eberhardt im Frack, um Würde bemüht) kann nicht sein, was nicht sein darf. So fängt er mühelos von vorn an, als das Militär abgezogen wird. Als Militärarzt Chebutykin Reinhold Mayer herrlich trocken und zynisch. Peter Bergmann als Hauptmann Soljenyj absurd-unheimlich in seiner leisen Bösartigkeit.
Schwab zeichnet das Bild einer satten Gesellschaft, der es materiell an nichts fehlt. In ihren Seelen aber sind sie unbehaust und leer. Einmal richtig zu arbeiten ist Baron Tusenbachs (Alexander Schall mit tragisch-komisch Zügen) größtes Verlangen. Die Sehnsucht nach sinnstiftender Arbeit verbindet ihn mit der jüngsten Schwester Irina (Petra Nigg, schön weltfern mit Sehnsucht im Blick).
Die älteste Schwester Olga dagegen ist als Lehrerin die bodenständigste (sehr präsent Martina Schmidt-Klüpfel).
Im vierten Akt ist nach der Verwandlung Nataschas (Helga Klemps schneidend scharfer Ton lässt einem das Blut gefrieren) von der kleinbürgerlichen Braut in die herrschsüchtige Herrin des Hauses das Klavier aus dem Salon verbannt. An seiner Stelle steht die goldene Büste einer Frau. Und auf der Bühne ist bald wieder Winter. Sie ist kahl und leer. Die drei Schwestern sind so zukunftsfroh und heiter wie am Anfang 'Wir müssen leben', sagt Mascha. Ob in Moskau oder anderswo!
Weitere Vorstellungen bis 2. Dezember: freitags, samstags und sonntags jeweils 20 Uhr, Karten: 01805/592200.