20 Minuten sind es mit dem Auto auf der A7 von Kempten nach Nesselwang im Ostallgäu. Das ist genau die Zeit, in der abends bei Wintersportbegeisterten im Allgäu der Hebel umgelegt wird. Vom Arbeits- geht es in den Freizeitmodus. Pisten-Skifahren nach Dienstschluss kommt immer mehr in Mode - nicht nur in Nesselwang, sondern beispielsweise auch am Oberjoch oder in Thalkirchdorf bei Oberstaufen.
Wer will, kann zudem im Allgäu oder in Oberbayern, in Tirol oder in Vorarlberg an jedem Wochentag in irgendeinem anderen Skigebiet mit Stirnlampe zur Nachtskitour aufbrechen. Mittwochs beispielsweise in Nesselwang.
An diesem Abend ist es bitterkalt. Zwölf Grad minus zeigt das Thermometer an. Wer jetzt länger stehen bleibt, spürt die Kälte am ganzen Körper. Dennoch laufen auch an diesem Abend an der Nesselwanger Alpspitze die Lifte - bei ausreichender Schneelage sind die Pisten hier sogar täglich bis Saisonende von 18 bis 21 Uhr geöffnet. Bei der Auffahrt erzählt der Skifahrer in der Sesselbahn, dass er aus Augsburg kommt. Einmal in der Woche gönne er sich diesen Luxus und fahre die eineinhalb Stunden zur Alpspitze, um hier bei Flutlicht drei Stunden lang die Piste hinunterzuwedeln.
Thomas Bucher, Pressesprecher des Deutschen Alpenvereins (DAV), spricht von den "kleinen Fluchten" der Berufstätigen aus dem Alltag. Eine solche kleine Flucht auf Zeit beginnt auf dem Liftparkplatz der Alpspitzbahn in Nesselwang. Die meisten, die hier parken, haben ihre Tourenskier im Auto. Die Steigfelle sind bereits aufgezogen, und mit einem kräftigen Klick ist der Skischuh in der Bindung fixiert. Dann geht es Schritt für Schritt hinauf am Rande der Skipiste. Bis zur Alpenlodge auf 1500 Metern Höhe nahe der Bergbahn-Station, das sind 600 Höhenmeter.
Die schnellsten rennen in 35 oder 40 Minuten hinauf, gemütliche Geher sind deutlich über eine Stunde unterwegs. Die meisten laufen im Freundeskreis hinauf, sie erzählen, diskutieren und lachen. Im Schein seiner Halogen-Superlight-Stirnlampe rennt ein ambitionierter Skibergsteiger vorbei und verschwindet in der Dunkelheit.
Die Berglodge, oben an der Seilbahn-Station, hat an den Tourenabenden - also mittwochs - bis 22 Uhr geöffnet. Viele kehren hier ein. Andere fahren gleich ab, nachdem sie die Aufstiegsfelle von den Skiern gezogen haben. Aus der Ferne sehen die Stirnlampen aus wie ein Glühwürmchen-Schwarm. Bei gutem Wetter und wenn es nicht ganz so kalt ist, sind 300 oder mehr Tourengänger an der Alpspitze unterwegs.
Einen Tag später trifft sich die Tourengeher-Gemeinde am Staufner Haus am Hochgrat bei Oberstaufen, und wer am Freitagabend noch nichts Besseres vorhat, steigt im Tannheimer Tal von Grän auf die Sonnenalm am Füssener Jöchle. Verschiedene Ausrüstungshersteller haben die Termine der Tourenabende in kleinen Heftchen und auf ihren Internet-Seiten veröffentlicht.
Wer will, kann an jedem Wochentag etwas in der Umgebung finden. Die Bergbahn-Betreiber haben sich verpflichtet, an den Tourenabenden erst später mit dem Präparieren der Pisten zu beginnen. Zum Dank für dieses Entgegenkommen ist an einigen Hütten ein Sparschwein aufgestellt. Eine nette Geste: Wenn es zum Saisonende geschlachtet wird, sollen sich die Pistenraupenfahrer mit dem Inhalt einen schönen Abend machen.
Peter Schöttl, Präsident des Verbandes Deutscher Seilbahnen, hat festgestellt: "Die Nachtaktivitäten am Berg haben in den vergangenen Jahren zugenommen." Dazu gehören auch Rodelabende oder Fackelwanderungen. Und eben Nachtskifahren bei Flutlicht. Beliebt ist das Schöttl zufolge überall dort, wo im Einzugsgebiet einer Bergbahn viele Menschen wohnen. Denn die Zielgruppe der Abendaktivitäten seien Einheimische, die tagsüber ihren Job machen, danach aber noch Sport an der frischen Luft treiben wollen.
Das sei doch nachvollziehbar und vernünftig, findet Schöttl: "Wenn sich alle an die Spielregeln halten." Und dazu gehört: Nach Liftschluss, in der Regel also am Spätnachmittag, dürfen nur solche Pisten betreten werden, die an diesem Abend offiziell für Tourengeher geöffnet sind.
Den Trend erkannt hat mittlerweile auch ein Münchener Unternehmen, das einmal wöchentlich Skitourengeher zum abendlichen Ausflug aus der Landeshauptstadt an den Hirschberg am Tegernsee bringt. Der Protest ließ nicht lange auf sich warten. "Diese sportliche Herausforderung geht auf Kosten des heimischen Wildes", sagt Jürgen Vocke, Präsident des Bayerischen Jagdverbandes. Durch die Skitourengeher bei Nacht werde das Wild während der Ruhephase gestört und beunruhigt. Vocke appelliert: "Tourismus muss im Einklang mit dem Tierschutz stattfinden und nicht gegen die Gesetze der Natur."
Die als "Nachtspektakel" angepriesenen abendlichen Wintersportaktivitäten sieht auch Biologe Henning Werth skeptisch: "Das ist ein Trend, der in die falsche Richtung geht." Werth spricht für den Landesbund für Vogelschutz und ist hauptamtlicher Betreuer des Naturschutzgebietes Allgäuer Hochalpen. Das Skifahren oder Pistengehen bei Flutlicht findet Werth noch vergleichsweise harmlos.
Am schlimmsten für die Natur seien aber diejenigen, die sich nach Einbruch der Dunkelheit in unberührten Gebieten bewegen, also mit Schneeschuhen oder Tourenskiern abseits der Pisten unterwegs sind. "Ab 16 Uhr sollte das tabu sein", sagt der Biologe und erinnert daran, dass der Lebensraum der Wildtiere durch Sporttrends nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich immer mehr eingeengt werde.
Werth setzt nach eigenen Worten nicht auf pauschale Verbote, sondern appelliert an die Vernunft und die Fairness der Sportler. So hätten sich beispielsweise verschiedene Outdoor-Veranstalter auf Nachhaltigkeitskriterien verständigt. Dazu zähle der Verzicht auf nächtliche Aktionen in den Bergen.
Der Deutsche Alpenverein, der nicht nur Lobby der Bergsteiger, sondern auch anerkannter Naturschutzverband ist, sieht die Sache mit den abendlichen Skitouren differenziert. Wenn offizielle Tourenabende in einem Pistengebiet angeboten werden, sei das in Ordnung, sagt Alpenvereins-Sprecher Bucher. Deshalb könne er die Kritik an den Busfahrten von München zum Hirschberg am Tegernsee einmal die Woche auch nicht nachvollziehen.
Allerdings habe der weltweit größte Bergsteigerverein auch eine klare Grenze gezogen: Die abendlichen Tourengeher sollten die Pistenbereiche nicht verlassen. "Kämme und Gipfelbereiche müssen unbedingt gemieden werden", unterstreicht Bucher. Deshalb werde an den Tourenabenden meist bis zu einer Hütte oder einem Berggasthof über die Piste aufgestiegen. Das sei für die Skifahrer ein tolles Naturerlebnis an der frischen Luft und ein bisschen sportliche Betätigung. Außerdem habe ein solcher Abend auch einen sozialen und kommunikativen Zweck, wenn man im Freundeskreis zusammenhockt.
An der Alpspitze in Nesselwang ist es längst dunkel geworden. Der Pistenbetrieb ist um 21 Uhr eingestellt worden, die Flutlichter sind aus. Doch der Schein der zwischen den Bäumen aufflackernden Stirnlampen verrät, dass noch Tourenfahrer bei der Abfahrt sind. Unten angekommen, steigen sie ins Auto und legen den Schalter wieder um - auf Alltag.