Jüdische Familie überlebte in Weitnau den NS-Terror. Von Ralf Lienert Weitnau 'Ich weiß noch, wie mich in Weitnau Frau Kollmann das Butterfass drehen ließ, weil sie genau wusste, dass ich vom Rahm schlecken wollte', erinnert sich Rosemarie Geisinger in einem Brief an ihren Weitnauer Schulfreund Dr. Walter Schneeberger. Darin schreibt sie auch vom Dezember 1944, als die Familie glaubte, von der Gestapo geholt zu werden, weil sie Juden waren. Doch vor der Türe des Hauses Möslang in Weitnau stand zum Glück nur der Nikolaus. Für die damals 14-Jährige war es eine schier unglaubliche Geschichte, als der Nikolaus einen Sack mit Grundnahrungsmitteln auspackte und obendrauf noch eine Torte stellte: 'Wir haben nie erfahren, wer es gewesen ist', erzählt sie heute.
Rosemarie, ihrem jüngeren Bruder Ernst und den Eltern blieben Deportation und KZ erspart. Sie überlebten unter dem Schutz der Weitnauer Bevölkerung und galten gemeinhin als Bombenflüchtlinge aus Saarbrücken. Vater Geisinger hatte dort alle Unterlagen und die Ausweise von seiner Frau und den Kindern mit dem großen 'J' für Jude verbrannt. In der durch ständige Luftangriffe chaotischen Situation in Saarbrücken ging dieser mutige Schritt gut.
Die Familie setzte sich in einen Zug, der sie vor den Bomben und dem Holocaust retten sollte. Das Reiseziel Weitnau war eher zufällig. Der Zug endete im Kemptener Hauptbahnhof und die Flüchtlingsstelle schickte die Familie nach Weitnau. Dort kam zunächst niemand auf die Idee, daß die Geisingers nicht nur wegen der Bomben aus Saarbrücken geflohen waren.
Im Hause Möslang fanden sie über dem Kramerladen und der Schneiderstube Quartier. 'Meine Schwester Helga und ich freundeten uns schnell mit Rosemarie an, einem hochgeschossenen, dürren Mädchen, das wir deshalb die lange Gretl nannten', erzählt Schneeberger. Die Halbjüdin besuchte die Oberschule in Isny und weiß noch, wie ihre Mutter nach 'Notschlachtungen' bei Dunkelheit mit Milchkannen voller Wurstsuppe heimkam. 'Gretl' erhielt Lateinunterricht von Pfarrer Hasel: 'Aber das war nur ein Vorwand, um mich mit Apfelkuchen und Schlagsahne zu verwöhnen.'
Latein im Pfarrhof gepaukt
Am 30. April besetzten französisch-marokkanische Truppen Weitnau kampflos. In der damals schullosen Zeit setzte sie ihren Lateinunterricht beim französischen Divisionsgeistlichen Abbé Schneider im Pfarrhof fort. Bis Ende 1945 wohnte Familie Geisinger in Weitnau, kehrte dann nach Saarbrücken zurück und bald schlief auch der Schriftwechsel mit Schneeberger ein.
18 Jahre später liefen sich die Dolmetscherin Rosemarie und der Assistenzarzt Walter in der Uniklinik Homburg über den Weg. Erst jetzt erzählte sie von ihrem Schicksal: 'Meine Mutter war Jüdin, die ihre gesamte Verwandtschaft im KZ verlor.'
Sie berichtete auch von einem Appell 1941 bei den NS-Jungmädchen. Unter den Führern sei plötzlich Unruhe aufgekommen. Dann seien einige der Männer mit hämischen Gesichtern geradewegs auf sie zugegangen und sagten: 'Weißt du, dass du nicht in die Reihen der deutschen Jugend gehörst?' Rosemarie fiel damals aus allen Wolken. Die deutsche Jugend waren doch ihre Freundinnen und Klassenkameradinnen.
Der Rausschmiss hat sich tief eingegraben: Noch heute ist es ihr unangenehm, wenn jemand direkt auf sie zugeht. Wie in Trance lief sie damals weg geradewegs in die Arme ihres Vaters, der hinter einer Ecke wartete. 'Er hatte eine Ahnung gehabt.'
In Weitnau überlebte auch noch eine zweite jüdische Familie. Ein Kaufmann aus dem Kreis Ravensburg tauchte mit seiner Frau und Tochter gegen Ende des Krieges bei einem Schulfreund unter. In der örtlichen Brauerei erhielt er Arbeit und überstand die NS-Zeit unter dem Deckmantel seines adeligen Namens unbehelligt.