Am Ende fällt es schwer, den Beifall zu spenden, den die Schauspielerin verdient hätte. Nicht nur die Hitze in der Hägeschmiede schnürt den Premierenbesuchern bei 'Das Jahr magischen Denkens' von Joan Didion die Kehle zu. Es ist vor allem die schonungslose Direktheit des Monologs, der sich auf Geist und Körper niederschlägt. Es geht um den Tod, fast 100 Minuten lang ohne Pause. Um seine Unausweichlichkeit, seine Sinnlosigkeit, den ungeheuren Schmerz, den er bei der Zurückbleibenden verursacht, und um die verzweifelten, aussichtslosen Versuche, ihn rückgängig oder wenigstens fassbar zu machen. Sabine Lorenz, Intendantin und Schauspielerin der Festspiele Wangen, bringt dieses Protokoll härtester Trauerarbeit mit Emphase auf die Bühne.
'Es wird Ihnen passieren.' Die Protagonistin richtet sich direkt an ihre Zuhörer, bevor sie davon erzählt, wie sie innerhalb kurzer Zeit ihre beiden liebsten Menschen verloren hat. Die anderen vor der Brutalität des Todes zu warnen, ist eine von vielen Variationen, mit denen die Autorin sich dem Entsetzlichen zu stellen versucht. Es fühlt sich ein bisschen wie Aufbäumen an.
Dieses Aufbäumen, dieser Kampf um die Kontrolle zieht sich durch das ganze Stück. Es schlägt sich nieder in langen Reihen medizinischer Fachausdrücke, in detailgenauen Schilderungen von Nebensächlichkeiten – angesichts der im Koma liegenden Tochter und dem an einem Herzinfarkt gestorbenen Ehemann –, und in nüchtern formulierten Deutungen der schrecklichsten Augenblicke: 'Wenn Sie einen Sozialarbeiter zugeteilt bekommen, sind Sie wirklich in Schwierigkeiten'.
Joan Didion webt einen Rhythmus in ihren Text. Er ergibt sich aus den kraftvollen Gedanken, mit denen sie das Geschehene zu erklären und das Nötige zu tun versucht, ihres übergroßen Leids und ihrer hilflosen Suche nach Rettung: 'Wenn ich nach LA fliege – kann es nach pazifischer Zeit nicht ein ganz anderes Ende nehmen?', fragt sie sich kurz nach dem Tod des geliebten John.
Diesen Rhythmus aufzunehmen und 100 Minuten lang durchzuhalten ist eine große Herausforderung für eine Schauspielerin. Zumal das Gehörte auch den Zuschauern Kraft abverlangt. Fast greifbar ist die Erleichterung mancher Premierenbesucher, wenn sie an zwei/drei Stellen angesichts einer absurden Banalität am Rande der Geschichte kurz auflachen können.
Sabine Lorenz gelingt es, die Menschen mitzunehmen in die Welt des Schmerzes. Ihre warme Stimme, ihre Reife, die gerade in dieser Rolle wesentlicher Teil ihrer Schönheit ist, ihre mal fordernd in die Reihen, mal sich verlierend in die Weite blickenden Augen geben den Sätzen eine erschütternde Authentizität. Vielleicht hätten ein paar mehr Minuten der Stille dem Vortrag gut getan. Oder auch nicht – Stille ist schwer erträglich, wen jemand sagt: 'Ich habe einen der Flüsse überquert, die die Lebenden von den Toten trennen.'
Die Erinnerungen sind purer Schmerz. Die schönen ebenso wie die bitteren. 'Du bist in Sicherheit. Ich bin da'. Diese Worte, mit denen Joan Didion ihre Tochter Quintana begleitet hat, empfindet sie später als gebrochenes Versprechen. So gesehen versteht sie ihren Text womöglich doch auch als Warnung.
Wenig Trost bietet dieser Theaterabend – er fordert im Gegenteil dazu auf, nicht auf wohlfeile Trostworte zu vertrauen. 'Über uns hatte niemand Flügel gebreitet', sagt Didion. Ein Hauch Erleichterung lässt sich erst erahnen, als Didion erschöpft das Unausweichliche schreibt: 'Ich warte nicht mehr darauf, dass er zurückkommt. Es ist vorbei. Er ist tot.'
Als sich die rund 100 Premierenbesucher so allmählich aus dem Jahr magischen Denkens gelöst haben, brandet endlich kräftiger Applaus auf – für Sabine Lorenz und Regisseur Anatol Preissler, der mit diesem existenziell berührenden Stück einen wertvollen Kontrapunkt zu Turrinis 'Der tollste Tag' ins Programm der Festspiele aufgenommen hat.
Weitere Aufführungen: 18., 25. Juli, 8., 15., 22., 29. August. Karten: (07522) 74-211.
Eine vom Leben gebeutelte Frau: Sabine Lorenz vermittelt die Gedanken von Joan Didion. Foto: Christoph Morlog/Festspiele