Missbrauchs-Opfern Stationäre Therapie für Frauen in Allgäuer Kliniken Von Verena Stitzinger Oberstdorf/Stiefenhofen/Kempten'Sexuellen Missbrauch gibt es öfter, als wir alle ahnen', betont Erika Leuterer. Die Therapeutin arbeitet seit über zehn Jahren im Allgäu mit Frauen, die als Kinder körperlich, geistig und seelisch verletzt wurden. Kürzlich hat die erfahrene Therapeutin auf einer Fachtagung in Oberstdorf Ärzten und Psychologen aus ganz Deutschland von ihren Erfahrungen berichtet.
Leuterer geht von 300 000 Straftaten bundesweit pro Jahr aus. Davon sei kein Landstrich verschont. 56 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern wurden im vergangenen Jahr in der Region der Polizei angezeigt, doch Kripo-Chef Walter Hägele spricht von einer hohen Dunkelziffer. Viele Fälle würden nie bekannt, erklärt die Therapeutin. Die Frauen sprechen auch als Erwachsene nicht über ihre Erlebnisse, weil sie Schuldgefühle haben. 'Sie übernehmen die Schuld am Geschehen, weil es unerträglich wäre, den geliebten Vater als Schuldigen zu erleben', schildert Leuterer. Der Missbrauch werde oft lange verdrängt. Viele Frauen litten später unter Essstörungen oder Depressionen erst bei der Aufarbeitung dieser Krankheiten komme dann die Ursache ans Licht: Sexueller Missbrauch.
Erika Leuterer hatte 1989 in der neu eingerichteten Psychosomatischen Hochgrat-Klinik in Stiefenhofen als Körpertherapeutin begonnen. 'Da saßen abends immer vier bis fünf Frauen zusammen und weinten', erinnert sie sich. Die Patientinnen waren als Kinder alle sexuell missbraucht worden und baten um therapeutische Behandlung: 'Innerhalb weniger Wochen wuchs die Gruppe auf rund 30 Frauen an.' Die damals gegründete Trauma-Gruppe in Stiefenhofen besteht neben den anderen therapeutischen Angeboten noch heute. Später baute Leuterer auch in der psychosomatischen und -therapeutischen Adula Klinik in Oberstdorf eine Missbrauchs-Gruppe auf. Heute gebe es in vielen Kliniken solche Therapien. 'Früher dachten viele Frauen, sie wären die einzigen, denen so etwas passiert ist', sagt Leuterer. Die 75-Jährige hat mit hunderten von Frauen gearbeitet. Diese lebten oft in völliger Isolation, vertrauten nicht einmal dem Partner ihr Geheimnis an.
Der erste Schritt einer Heilung sei deshalb, dass die Frauen ihr eigenes Schicksal annehmen. 'Sie müssen den Schmerz zulassen, den sie damals nicht spüren konnten.' Denn die Kinder hätten durch den Missbrauch ihre Gefühle abgeschaltet. Die Opfer sexueller Übergriffe erlebten sich selbst als Werkzeug und kennen nur noch Scham und Schuld.
Heilung möglich
Liebe und Mitempfinden seien bei der Therapie am wichtigsten. Die Frauen sollten lernen, mit ihrem Alltag zurecht zu kommen, so die Therapeutin. Dieser Prozess sei nur in 'winzig kleinen Schritten' möglich. Nach dem Klinikaufenthalt bilden die Frauen oft Selbsthilfegruppen. Die Heilung dauere Jahre. Aber sie ist möglich: 'Wir haben eine hohe Heilungsquote', freut sich Leuterer, die Kontakt zu vielen ehemaligen Patientinnen hält.