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Phrasen statt Antworten und Wahrheit

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Phrasen statt Antworten und Wahrheit

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    Phrasen statt Antworten und Wahrheit
    Phrasen statt Antworten und Wahrheit Foto: boxler

    In der Serie "20 Jahre Mauerfall" will die Heimatzeitung in den nächsten Wochen die jüngere deutsche Geschichte anhand von Porträts beschreiben. Wir stellen Menschen aus dem Westallgäu vor, deren Leben von der Teilung und der Wiedervereinigung Deutschlands geprägt wurde.

    Sigmarszell/Lindenberg Beim zweiten Mal wollte es Peter Geisler besser machen. Mehr Zeit einplanen, auf vertrauenswürdige Personen achten. Ihm war klar: "Ich werde wieder flüchten." Der erste Versuch als 15-Jähriger 1982 - gescheitert. Die Konsequenz: sechs Wochen Aufenthalt in Untersuchungshaft im Gefängnis Rummelsburg in Ostberlin. Normalerweise gab es zwei Jahre auf versuchte Republikflucht, aber Geislers Mutter, seinerzeit Bürgermeisterin im Erzgebirge, setzte die Genossen unter Druck, drohte mit Presse und Amtsniederlage. Der heutige Lehrer der Hauptschule Lindenberg kam frei. Alles sollte aussehen wie ein "dummer Jungenstreich". Danach war er erwachsen, sagt er. Hat kapiert, wie das sozialistische System der DDR tickt und wie er es mit einer gewissen Abgeklärtheit zu seinen Gunsten ausnutzen kann.

    Geisler wollte studieren. Abitur machen durfte aber nur ein vorbildlicher Staatsbürger - keiner, der schon mal über die Grenze abhauen wollte. Geislers einzige Chance: sich für die Armee verpflichten. Die Monate vor der Wende erlebte er als Soldat im 18-monatigen Grundwehrdienst. "Sie haben mich weit weg vom Westen an die polnische Grenze nach Görlitz gesteckt", sagt Geisler, der heute in Bösenreutin (Gemeinde Sigmarszell) wohnt. Ihm war klar, "dass da politisch was läuft". Immer wieder kursierten Gerüchte über Demonstrationen; in der Kaserne "haben Unteroffiziere mit Munition am Bett gesessen" - stets bereit für einen möglichen Einsatz.

    Im Herbst 1989 sind viele DDRler durch die Neiße/Oder nach Polen geschwommen, um über den Umweg Osten in den Westen zu kommen, sagt Geisler. Für einen kurzen Moment wollte auch er die Gelegenheit beim Schopf packen. Aber die Angst, wieder erwischt zu werden, war zu groß. "Als Soldat wirst du vor ein ganz anderes Gericht gestellt."

    Der erste Fluchtversuch als Jugendlicher war "ganz spontan". Es blieb der letzte. Geisler wollte einfach weg; hatte viele Fragen und bekam Phrasen statt Wahrheit. Als Schüler wollte er im Staatskundeunterricht einmal wissen, warum der Stacheldraht an den Grenzen nach innen und nicht außen geht, wo es sich doch um einen "antifaschistischen Schutzwall" handeln soll. Zusammen mit einem Freund ist er nach einer Party im Zug vom Erzgebirge nach Berlin gefahren.

    Dort wollten sie Kontakt zu Fluchthelfern aufnehmen; irgendeiner hat vorher alles aufliegen lassen.

    Was dann kam, sei eine "Odyssee" gewesen. Unzählige Verhöre, immer die gleichen Tricks: der eine ist nett, macht auf Kumpel; der andere poltert los, ist heftig. "Ich habe die versuchte Republikflucht aber nie zugegeben." Die ersten Tage im Gefängnis hatte Geisler Hoffnung - "morgen bin ich wieder raus". Dann kam das sich Arrangieren. Das Schlimmste war die Ungewissheit. Was passiert als nächstes? Wieder draußen wurde das Thema totgeschwiegen. Lehrer, Schulkameraden, Freunde - niemand hakte nach. "Der Fluchtversuch war ein Verbrechen im Osten."

    Geisler war gegen die "menschenfeindliche Diktatur" seines Heimatstaates; gegen die "isolierte Macht, die zentral gesteuert wurde". Ihm ging es nie um Konsum. West-Auto, großer Fernseher - das alles spielte keine Rolle für ihn. Ihn quälten andere Fragen: Wie gehen wir in der Gesellschaft miteinander um? Was ist mit Freiheit? Mit Gerechtigkeit? Darunter hat er gelitten. Und die Sehnsucht nach Individualität und Selbstständigkeit hat ihn geprägt. So sehr, dass Unabhängigkeit bis heute eine tragende Rolle in seinem Leben spielt. Abhängigkeit zerstört Kreativität und Persönlichkeitsentwicklung, sagt der 42-Jährige. "Ich brauche immer den Überblick; etwas muss so sein, dass es mich zu keiner Zeit so einschränkt, etwas ganz anderes zu tun", sagt er.

    Seine Herkunft hat der gebürtige Leipziger nie verleugnet. Er sieht sich als Gewinner der Wende, der beide Systeme kennenlernen durfte und zur richtigen Zeit die richtigen Leute kennengelernt hat. Mit Blick auf die DDR sagt er ganz klar: "Ich weiß, wo meine Wurzeln sind."

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