Neugablonz (rim). - Im Lindner-Haus, dem späteren Hotel Europa, wurde 1947 das erste Kind in Kaufbeuren-Haart zur Welt gebracht. Antonie Lindner (86) heißt die Mutter. 'Anfangs war es mir gar nicht bewusst', erzählt sie. Erst Berthold Lindner, der nicht mit ihr verwandte Eigentümer des Hauses, machte sie darauf aufmerksam. 'Ich bin schon stolz deshalb', sagt sie. Ihr Sohn Werner Lindner ist heute 59 Jahre alt und arbeitet in der Verwaltung der Kommunalen Jugendarbeit. Das Ehepaar Otto und Antonie Lindner wurde 1946 aus Reichenau vertrieben. Über Nürnberg und Rothenburg ob der Tauber kamen sie nach Kaufbeuren und gehörten zu den 17 Familien, die im Lindner-Haus einquartiert worden waren. In einem etwa 30 Quadratmeter großen Zimmer wohnten die Lindners. 'Berthold Lindner hat mir angeboten, mich für die Geburt mit einem Geländewagen ins Kaufbeurer Krankenhaus zu fahren. Aber ich habe mit einer Hebamme meinen zweiten Sohn zur Welt gebracht', erzählt die heute 86-Jährige. Bis 1953 wohnten die Lindners zu viert in dem Zimmer. Dann kamen sie als eine der ersten Familien in eine Zwei-Zimmer-Wohnung des Gablonzer Siedlungswerks in der Gewerbestraße. 'Damals haben viele eine Wohnung gesucht', so Antonie Lindner. Anfangs lebte die Familie dort noch gemeinsam mit den Eltern und ihren Geschwistern.'Als Kind war ich meist auf mich allein gestellt', erzählt Werner Lindner. Der Vater arbeitete als Glassäumer in einer Werkstatt, die Mutter erledigte den Haushalt und half ihrem Mann - wenn sie dazu noch genügend Zeit hatte. 'Zum Spielen sind wir auf die Straße gegangen.' Aus Stoffflicken nähte der Großvater den Enkeln einen Ball zusammen, den er mit Seegras füllte. Die alten Bunker der ehemaligen Munitionsfabrik diente den Kinder als riesiger Abenteuerspielplatz. 'Man hat dort tolle Sachen gefunden.
' Von der Turbinenhalle, die heute im Trümmergelände zu sehen ist, führten Gänge in verschiedene Richtungen. Schwefel und Tonkugeln lagen dort. 'Mit Karbid haben wir Glasflaschen gesprengt. Es ist schon sehr gefährlich gewesen', berichtet Lindner. Die Mutter sorgte sich oft um die Kinder. Vor allem, wenn sie im Winter nach dem Rodeln oder Skifahren nicht rechtzeitig zu Hause waren. 'Wenn man da nicht gekommen ist, ist der Feldwebel hinterher gelaufen', erzählt Werner Lindner. Bei sehr kaltem Wetter brachten Werner und Kurt Lindner ihrem Vater auch heißes Wasser in seine Werkstatt. 'Dort gab es keine Heizung. Mit dem heißen Wasser hat er sich dann die Füße gewärmt', berichtet Werner Lindner. Als Lindner älter war, spielte er Fußball beim BSK Olympia Neugablonz. 'Im Verein brauchte man nicht großartig Geld.' Nur die Schuhsohlen litten unter dem Sport und mussten geflickt werden. In der ersten Mannschaft stieg Lindner bis in die Landesliga Süd auf. Mit 28 Jahren musste er seine aktive Karriere auf Grund von Verletzungen beenden. Gemeinsam mit seiner Frau Sonnhild wohnt der 59-Jährige noch heute in Neugablonz. Er fühlt sich dort fest verwurzelt. 'Ich möchte es nicht missen.' Sein Bruder Kurt starb 1978, sein Vater Otto 1982. Antonie Lindner wohnt noch heute in der Zwei-Zimmer-Wohnung des Gablonzer Siedlungswerks. In den vergangenen 60 Jahren ist Neugablonz zur Heimat geworden. 'Man ist mit den Leuten bekannt geworden.' Und sie ist ein bisschen stolz darauf, den ersten Neu-gablonzer in der Schmuckstadt zur Welt gebracht zu haben.