Artikel: Theaterpremiere in Kempten: Im Drama Ohne Gesicht sind Peter Fricke und Diana Körner nicht textsicher

17. Januar 2012 00:00 Uhr von Allgäuer Zeitung
Oberstdorfer Musiksommer

Ein Infekt bei Hauptdarsteller Peter Fricke bescherte Kempten eine unverhoffte Premiere: Die neueste Produktion des 'a.gon Theaters', 'Ohne Gesicht' von Irene Ibsen Bille, sollte eigentlich in Stade (bei Hamburg) erstmals über die Bühne gehen, musste aber wegen der Krankheit um einige Tage verschoben werden. Mit seiner Kollegin Diana Körner kämpfte sich der bekannte Schauspieler mit der samtenen Stimme im Kemptener Stadttheater durch das 'Textmonster' eines Krimis, der die hochphilosophische Frage stellt: 'Wer oder was ist das Ich?'. Nicht zuletzt wird sie vor allem psychologisch behandelt, hat man es hier schließlich mit dem 1952 entstandenen Text einer Henrik-Ibsen-Enkelin zu tun, dem Meister der Enthüllung von Lebenslügen und verdrängter Vergangenheit.

In 'Ohne Gesicht' drohen zwei Menschen den Halt zu verlieren. Die Bühne (von Claudia Weinhart), eine noble Hotelsuite, fällt nach vorn hin ab. Gräben tun sich auf zwischen den Podesten, die nur durch vier hohe Türrahmen zu begehen sind. Es sei denn, man würde über die Gräben springen.

Preis der Selbstverleugnung

Fünfzehn Jahre lang lebte Thomas mit einer falschen Identität, hat er doch den Platz seines verstorbenen Zwillingsbruders Vincent, eines erfolgreichen Unternehmers, eingenommen. Mit dem Preis der Selbstverleugnung. Nun, zu seinem 60. Geburtstag hält er dem psychischen Druck nicht mehr stand. Seine Frau Louise, in ihrer bürgerlichen Existenz bedroht, verweigert ihm den Wunsch, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.

Die beiden Schauspieler konnten sich in der Inszenierung von Stefan Zimmermann noch nicht auf ihre Aufgabe, die Seelenqualen ihrer Figuren nachvollziehbar zu machen und den Spannungsbogen des Dramas zu gestalten, stürzen, weil der Text noch nicht saß. Das war das eigentliche Problem des Abends. Im ersten Akt bibberte nicht nur die Souffleuse. Auch das Publikum im gut gefüllten Haus hielt den Atem an angesichts der Lücken und Wirrnisse in den Dialogen.

Im zweiten Akt spielten sich Fricke und Körner glücklicherweise ein. Und auch die dramaturgische Linie wurde klarer, wohin das Motiv der Verwechslung und des Doppelgängertums führen würde. Dass Thomas eine schlüssige Selbst-Erzählung seiner Person konstruiert, rettet ihn nicht. Er gibt sich als Vincent die Kugel. Es hätte Louises Bestätigung ('Sag jetzt meinen Namen!') bedurft, damit er sich als eine Person begreifen kann.

'Ich möchte nicht länger zwei Menschen sein. Ich will eins sein.' In heutigen Identitätsdiskursen hätten sie sich wohl neu erfinden können. Heutige Menschen hätten sich vielleicht getraut, über den Graben zu springen.

Nur in Ansätzen konnten Fricke und Körner durchscheinen lassen, dass das Stück bei aller Tragik auch Witz und Doppelbödigkeit besitzt. Wenn sie über dem Text stehen, kann ein spannungsreicher Abend entstehen. Die verhaltenen Publikumsreaktionen wandelten sich aber am Ende in anerkennenden Schlussapplaus.