Von Manfred Marr, Nürnberg/Buchloe - 'Voll im Beruf stehen und gleichzeitig Spitzensport betreiben - das ist heute nicht mehr möglich' - Diese Meinung ist weit verbreitet und oft zutreffend. Doch Ausnahmen bestätigen die Regel: Kerstin Scheitle von der Equipe der Nürnberger Versicherung bewies heuer bereits im zweiten Jahr, dass man trotz eines achtstündigen Arbeitstages im Sport ganz vorne dabei sein kann. Die Patentanwalts-Fachgehilfin stand 2002 neunmal auf dem Treppchen, sechsmal als Siegerin. In der offiziellen Rangliste des bundesdeutschen Frauenradsports liegt sie auf Rang zwölf und konnte sich damit gegenüber 2001 sogar um zwei Plätze verbessern. 'Eine gewaltige Umstellung war es schon, doch das Schlimmste habe ich bereits im Vorjahr überstanden, in meinem ersten Berufsjahr', erklärt die Buchloerin, die hier wohnt und arbeitet. 'Mit der Saison 2002 bin ich insgesamt zufrieden, vor allem meine guten Platzierungen bei der Berg-DM und bei den Bundesliga-Rennen haben mich gefreut!'. Kerstin Scheitle wurde in Albstadt fünfte der DM und fuhr mehrfach bei den Liga-Rennen unter die ersten zehn, wobei sie allerdings diese Rennen nicht mehr wie vor zwei Jahren als Kapitän bestritt: 'Wir sind ein eingespieltes Team, in dem jede Fahrerin ihr Bestes gibt, damit habe ich keine Probleme.' Im Gegenteil, die Straßenspezialistin genießt es nun etwas, nicht mehr ganz vorne im Rampenlicht zu stehen. 'Das hat auch Vorteile, vor allem die psychische Belastung ist längst nicht mehr so groß', stellte sie heuer immer wieder fest. Mit der für sie neuen 'Domestikenrolle' hat Kerstin, die im Jahr 2000 noch den Gesamt-Einzelsieg der Bundesliga holte, keinerlei Probleme. Sie stört es auch nicht, dass der Hauptsponsor mit Hanka Kupfernagel, Petra Roßner und Judith Arndt die drei derzeit besten deutschen Rennfahrerinnen ins Team holte. 'Damit wird unser Team nun noch stärker und wir hoffen, in der Weltklasse ganz vorne mitzumischen', meint sie zuversichtlich. Dabei macht Kerstin Scheitle allerdings Abstriche, was ihre eigenen Ambitionen anbelangt: 'Für mich hat der Beruf nun den absoluten Vorrang, ich fahre zwar auch noch gerne bei internationalen Rennen mit, aber nur, wenn sie in meinen persönlichen Zeitrahmen passen. Ich muss mir meinen gesamten Jahresurlaub da schon sehr genau einteilen.' Erstaunlich ist, dass die 25-jährige Straßenfahrerin, die sich voll und ganz für die Mannschaft einsetzt, trotzdem 2002 selbst noch sechs Saisonsiege erkämpfte: 'Das freut mich schon sehr, wobei natürlich meine Teamkolleginnen vor allem bei Rennen im bayerischen Raum oft auch für mich schufteten.' Sie gibt jedes Lob an ihr Team weiter, das sie 'super' findet.
'Kein Thema' Deshalb denkt Kerstin Scheitle auch nicht an einen Vereins- oder Teamwechsel, um bei einer anderen, kleineren Mannschaft als Spitzenfahrerin zu starten: 'Das ist für mich kein Thema. Ich fühle mich seit Jahren in der Equipe wohl. Die Betreuung und das Umfeld sind einfach optimal.' Wechseln möchte Kerstin Scheitle nur wesentlich öfter vom Fahrrad- auf den Reitsattel: 'Reiten ist neben dem Radsport noch immer mein ganz großes Hobby, für das mir nun aber leider meist die Zeit fehlt.' Deshalb mit dem Radsport aufhören - das kann und will die vielfache bayerische Meisterin jedoch nicht. 'Auf keinen Fall! Es macht mir noch immer viel zu viel Spaß, Rennen zu fahren. Auch wenn es oft schon eine gewaltige Schinderei ist.' Die meisten Trainingskilometer legte sie auch 2002 mit ihrem radsportbegeisterten Vater zurück. Michael Scheitle gesteht schmunzelnd: 'Da muss ich oft schon alles geben, um bei Kerstin mitzuhalten.'