Die "Initiative Stolpersteine" verlegte bislang 21 Gedenksteine für Opfer der NS-Herrschaft in Kempten. Heute stellen wir das Schicksal der Schwestern Else und Gertrud Liebenthal vor. Die Familie gehört zu den ältesten jüdischen Familien in der Stadt. Vater Josef Liebenthal stammt aus Nürnberg und eröffnet im November 1875 einen Käsehandel in Kempten. Wenige Tage vorher hatte der 29-Jährige seine Frau Marie (26) geheiratet. 1878 und 1880 kommen die ersten beiden Söhne auf die Welt. Doch der Blick ins Melderegister zeigt das Schicksal vieler Familien in jener Zeit. 1881 sterben die Zwillinge Leo und Otto nach nur zwei Tagen und 1883 und 1885 ereilt das gleiche Schicksal die Kinder Ernst und Elise. Aber dann folgen von 1887 bis 1895 vier Mädchen, die in Kempten eine unbeschwerte Jugend erleben.
Die Familie lebt ab 1908 an der Ecke Westend/Bodmanstraße (heute Kinderschutzbund). 70 Butter-, Käse-, Milch- und Schmalzhändler bemühen sich damals um die Kundschaft der 11000 Einwohner zählenden Stadt. 1910 stirbt der 60-jährige Familienvater überraschend auf einer Reise nach Leipzig. Seine beiden Söhne Wilhelm (31) und Hans-Heinrich (30) führen das Geschäft weiter. Zehn Jahre später zieht Wilhelm mit seiner Frau nach Darmstadt. Hans-Heinrich schließt den Käsehandel 1929 und arbeitet als Buchhalter.
Und die Frauen im Haus? Anna heiratet den Bankkaufmann Josef Littmann und zieht 1911 nach Leipzig. Käthe stirbt 1927 mit 40 Jahren und wird in Kempten begraben. Mutter Marie wird 82 und stirbt 1934. Elsa bleibt ledig und lebt ab 1932 in Michelbach an der Bilz. Im Frühjahr 1939 kehrt sie nach Kempten zurück.
Doch hier hat sich viel geändert. Ihre Schwester Gertrud ist inzwischen ins "Judenhaus" an der Immenstädter Straße eingewiesen worden und arbeitet bei Karl Stiehle in der Haubenschloßstraße als Hilfsarbeiterin. Die Buchhalterin hat im Ullmann-Haus eine bescheidene Dachwohnung, die sie sich mit den Geschwistern Kleeblatt teilt.
Einige Häuser weiter wohnt der Bruder Hans-Heinrich. Kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird seinem Ausreiseantrag stattgegeben. Dabei half ihm die Kemptener Unternehmerfamilie Oberpaur. "Mein Onkel Richard hatte in Santiago und Valparaiso Modehäuser", erklärt dazu seine Nichte Eva Neuhauser. Am 30. November 1939 geht Liebenthal auf ein Schiff nach Santiago de Chile. Seine Geschwister sieht er nie wieder.
1942 müssen Elsa und Gertrud Liebenthal mit anderen Kemptener Juden den ersten Deportationszug besteigen. Sie lassen fast alles zurück. Das Vermögen in Höhe von 10400 Mark kassiert die Oberfinanzdirektion. Die beiden Schwestern werden im KZ Piaski ermordet. Ihr Bruder Wilhelm wird mit seiner Frau Berta Ende 1943 in Theresienstadt umgebracht. Vor ihrem Wohnhaus in der Westendstraße liegen die beiden Stolpersteine.