Kaufbeuren (avu). - Es ist ein Tag im März 1993, als sich das Unheil für Anette Nachbar ankündigt. Die Chefsekretärin sitzt im Büro von Michael J. Ryan, dem Geschäftsführer des Kaufbeurer Festplattenproduzenten Digital Equipment, als ihr Leben und das ihrer rund 600 Kollegen eine entscheidende Wende nimmt. Das Werk stehe vor einer schwierigen Phase, so Ryan. Die Konzernzentrale in Maynard (USA) habe entschieden: Komplettschließung oder Verlagerung des Kaufbeurer Betriebes. Stillschweigen wird vereinbart. Im Sommer 1993 wird es konkreter: Unter Kostengesichtspunkten und wegen der dramatischen Veränderungen auf dem Weltmarkt für Festplatten gebe es keine Überlebenschance, so Ryan im kleinen Kreis. Innerhalb eines Jahres sollen alle Arbeitsplätze abgebaut, das hochmoderne Werk geschlossen werden. Anette Nachbar wird in ein vierköpfiges Team berufen, das den Stilllegungsprozess organisatorisch abzuwickeln hat. Es dauert noch einmal Wochen, bis die Firmenleitung die Mitarbeiter informiert und mit der Nachricht an die Öffentlichkeit geht. Der Niedergang des Werkes nach einer rasanten Wachstumsphase ist eingeläutet. Zehn Jahre später: Anette Nachbar (43) steht noch unter dem Eindruck der ITU Telecom World in Genf, der weltgrößten Telekommunikationsmesse. 'Die Teilnehmerzahlen zeigen, dass die atemlose Überhitzung der Telekommunikationsindustrie einem nüchternen Pragmatismus gewichen ist', sagt sie. Es sind 40 Prozent weniger als 1999. Die Mutter von drei Kindern verantwortet heute die Unternehmenkommunikation des IT-Giganten Hewlett-Packard für die Märkte Europa, Mittlerer Osten und Afrika. 'Wenn ich vor schwierigen Problemen stehe', sagt Anette Nachbar, die zwischen ihrem Arbeitsplatz Zürich und dem Wohnort Dösingen pendelt, 'dann denke ich einfach an 1993.
' Die ehemalige Digital-Mitarbeitern war mehrfach betroffen: Sie musste nicht nur die Schließung - vom Abbau von hunderten Arbeitsplätzen bis zum Verkauf des Inventars - mitorganisieren, sondern sah letztlich auch ihrer eigenen Kündigung entgegen. Und sie musste als Pressesprecherin die Unternehmenspolitik in der Öffentlichkeit vertreten. Zitat Es war eine tolle Arbeits- atmosphäre damals und es war phantastisch, was wir bei Digital gemacht haben.} Anette Nachbar Nicht nur der Arbeitsmarkt sei von der Werksschließung in Kaufbeuren betroffen gewesen, erinnert sich der damalige und heutige Leiter des Arbeitsamtes, Gerhard Funke. 'Die Abwanderung vieler hochqualifizierter Mitarbeiter zeigte sich auch in einem Kaufkraftverlust und am Immobilienmarkt.' Einige Digital-Mitarbeiter leben noch in der Region. Auch Anette Nachbar blieb - privat. Nach einem Intermezzo in einer Kaufbeurer Firma ging sie 1995 als Assistentin des Vizepräsidenten für Europa/Mittlerer Osten und Afrika zu Compaq nach München. Im Zuge der Verlagerung der Compaq-Europazentrale in die Schweiz wechselte sie 2001 nach Zürich. Im Mai 2002 übernahm Hewlett-Packard die Firma Compaq. In Kaufbeuren machte sich das Desaster um die Firma Digital und deren Zulieferer laut Arbeitsamtsleiter Funke fünf Jahre auf einem ohnehin angespannten Arbeitsmarkt bemerkbar. Aus dem Digital-Gebäude wurde ein Gründerzentrum und der Innova Allgäu Hightech-Park, in dem heute zahlreiche Firmen ihren Sitz haben und der 2004 zehnjähriges Bestehen feiert. 'Wenn ich am Innova-Park vorbeikomme, beschleicht mich schon etwas Wehmut', sagt Anette Nachbar. 'Aber ich bin pragmatisch genug, um zu wissen, dass ein Unternehmen Gewinn machen muss.' Doch auch jetzt noch stellt sich für sie und ehemalige Kollegen die Frage, ob die Konzernleitung den Markt damals richtig eingeschätzt hat. Schon 1993 gab es betriebsintern Stimmen, die einer Produktion maßgeschneiderter Speichersysteme große Chancen eingeräumt hatten. Und heute? Angesichts des Internet-Booms und der künftigen 'totalen Digitalisierung' wachse der Bedarf an Trägern mit hoher Speicherdichte, so Anette Nachbar. 'Das hat man bei Digital so nicht vorausgesehen.'