Seltsame Dinge geschehen in der Klasse 3a der Grundschule Lindenberg: Ein Mädchen steht auf und schiebt die Tafel hoch. Als sie wieder am Platz ist, erhebt sich ein Junge, wandert durchs Zimmer, schnappt sich ein Lineal vom Tisch eines Kameraden und legt es irgendwo ab. Jetzt verlässt das nächste Kind seinen Platz und bringt das Lineal dem Besitzer zurück. Lehrerin Ulrike König beobachtet stumm das offenbar sinnfreie Treiben - und scheint zufrieden zu sein. In der 3a läuft immer vieles anders. Hier gehören Spiel, Spaß und Lernen untrennbar zusammen. Mit sturem Pauken käme eine Klasse nicht weit, in der über die Hälfte der Schülerinnen und Schüler Migrationshintergrund haben und außerdem drei förderbedürftige Kinder sitzen.
Lied in vier Sprachen
Ulrike König liebt klassische Musik. Sie legt eine Händel-CD ein als Begleitung der Rechen-Brettspiele, mit denen dieser Morgen beginnt. Ganz leise spielen die Kinder an ihren Gruppentischen. Gedämpftes Licht und Kerzenschein schaffen eine gemütliche Höhlen-Atmosphäre. Der Begrüßungsgesang fällt heute etwas länger aus. "Good morning, good morning, good morning to you .". Neben Misses König werden auch Misses Astrid Atmanspacher (Integrationskraft) und Misses Alexandra Bischof (Praktikantin) willkommen geheißen. Und weil das Singen so schön ist, gibt es eine Zugabe: "Frère Jacques" samt Folgestrophen "Are you sleeping", "Bruder Jakob" bis hin zum türkischen "Tembel çocuk". Souverän hört sich dieser internationale Chor an. "Kinder mit Migrationshintergrund", so erklärt Ulrike König, "gehen offen und mutig auf andere Sprachen zu.
Davon profitiert die ganze Klasse". Auch die Töne sitzen sicher. Die 3a war im Vorjahr Chorklasse und genoss intensiven Sing- und Musikunterricht.
Melodie und Rhythmus sind ganz wesentlich bei den Integrationsstunden, die die Heilerzieherin Astrid Atmanspacher und Ulrike König mit der 3a in den Räumen der Kinderkrippe Mosaik gestalten. Geschichten werden rhythmisch gesprochen und mit Klatschen begleitet. Und auch die ganze Stunde folgt einer Art Rhythmus im Wechsel von Bewegung und Ruhe, Spannung und Entspannung, von Ausgelassenheit und Konzentration.
Höchste Aufmerksamkeit ist etwa im Zählkreis gefordert, der von 1 bis 26 führt. Jedes Kind darf eine Zahl nennen, ohne vereinbarte Reihenfolge. Die Arme umeinandergelegt, die Blicke zu Boden gesenkt hören und achten die Kinder aufeinander, um sich ja nicht ins Wort zu fallen - denn dann beginnt alles von vorn. Nach dem dritten geplatzten Versuch ist die Klasse genervt. "Macht halt langsamer", mahnt ein Mädchen. Endlich gelangt der Kreis tatsächlich bei 26 an: Jubel! Schnell ist ein Spalier gebildet, durch das jeder schreiten oder hüpfen und sich beklatschen lassen darf. Und gleich geht es spannend weiter, wenn die Klasse aus den Wörtern der Schatzkiste eine gruselige Geschichte zusammenschustert, zu der jeder eine Episode beiträgt.
Dass all diese Übungen um Zahlen, Buchstaben und Wörter gelingen, kommt vielleicht auch davon, dass Ulrike König und ihre Kindern zuvor einen langen, komplizierten Zauberspruch aufgesagt haben - "damit wir die schwierigen Aufgaben bewältigen." Die 56-jährige Lehrerin glaubt an die Kraft von Ritualen. "Es gibt keine Situation, zu der mir nicht ein hilfreiches einfiele", sagt sie. Darüber hinaus steckt aber auch ein kluges pädagogisches Konzept hinter ihrem Unterricht, das nicht nur die unterschiedlich-sten Fähigkeiten schult - von der Sinneswahrnehmung bis zu körperlicher Koordination - sondern auch das Selbstbewusstsein des jungen Menschen und das Zusammenwirken aller als Gemeinschaft im Blick hat.
Einem Besucher der 3a wird gar nicht sofort auffallen, wer in dieser eifrig spielenden und lernenden Schar seine Wurzeln in Deutschland, Nepal, der Türkei, Afrika, Bosnien oder Russland hat oder wer als förderbedürftig gilt. In der bunt gemischten Klasse hat jeder etwas einzubringen: von neuen Liedern bis zu leckeren Kochrezepten.
Ungeheuer spannend
Alle ziehen an einem Strang - mit dieser Grundhaltung lässt es sich erfolgreich lernen. Und damit lässt sich auch das Rätsel um die eingangs geschilderten seltsamen Dinge lösen, die die Kinder kurz vor der Pause vollführen. Es handelt sich um ein Lesespiel, bei dem jeder einen Zettel mit Handlungsanweisung bekommt. Dabei reicht es nicht zu verstehen, was man selbst zu tun hat. Jeder Bub und jedes Mädchen muss auch lesen und begreifen, was der vorherige Schüler macht.
So wissen alle exakt, wann sie an der Reihe sind. Das ist gar nicht so einfach - aber lustig und ungeheuer spannend.
Der Zählkreis ist ein kompliziertes Lernspiel. Nur wenn alle Kinder aufeinander achten, schaffen sie die Aufgabe. Aufmerksamkeit und Zusammenhalt gehören zu den wichtigen Voraussetzungen in der Migrationsklasse, der 3a von Ulrike König. Foto: Becker