Von Klaus Schmidt Rettenberg-Kranzegg - Wenn nächstes Jahr im Vatikan die Semana Santa, die Karwoche, gefeiert wird, dann soll dort auch ein Werk des Komponisten Hans-Jürgen Gerung erklingen. Gerung, der seit kurzer Zeit in Kranzegg wohnt, ist dem Oberallgäu schon lange verbunden. Er unterrichtet seit vielen Jahren an der kommunalen Musikschule Oberstdorf, ist aber auch ein international tätiger Interpret und Komponist. Als Interpret stellt er sich am Sonntag, 19. November, um 19 Uhr bei einem Benefizkonzert in Untermaiselstein vor (siehe eigener kleiner Beitrag), als Komponist war er bis vor kurzem mit einem Projekt für das Ensemble Schola Romana befasst, das sich auf A-cappella-Musik der Renaissance und des Barock spezialisiert hat, aber sich immer wieder auch zeitgenössischen Werken widmet und vor allem im Vatikan arbeitet.
Im Zentrum: die Schönheit Dessen Direktor Stefano Sabene hatte Hans-Jürgen Gerung mit einer Komposition für ein neues Projekt betraut. Es soll Werken der Renaissance zeitgenössische Arbeiten gegenüberstellen. Im Zentrum steht dabei der Gedanke der Schönheit. Denn während wir heute an den Arbeiten der Renaissance vor allem die Ästhetik der Formen bewundern, vermisst Sabene eine solche in der zeitgenössischen Musik. Er sieht darin eine folgenschwere Fehlentwicklung. Sie habe die Musik dem Großteil der Zuhörer entfremdet und sie zu einem Erlebnis für kleine Spezialistenkreise gemacht. So führe heute die zeitgenössische Musik einen geradezu verzweifelten Kampf, um wieder mit einem größeren Publikum in Kontakt zu treten. Sabenes Ansicht nach müsse es aber möglich sein, auch heute Werke zu schaffen, die einem breiteren Schönheitsempfinden genügen. Einen Beitrag dazu versucht Sabene mit dem Projekt 'La notte' zu leisten. Es kreist um die allegorische Figur der Nacht, eine Marmor-Skulptur, die Michelangelo Buonarroti für das Grabmal des Giuliano de' Medici in Florenz schuf. Die lebendige Plastizität dieses Frauenaktes verleitete den italienischen Dichter Giovanni Strozzi zu dem Ausruf, er möchte die schlafende Schöne am liebsten wecken. Worauf er von Michelangelo die Antwort erhielt, sie doch schlummern zu lassen, solange die Zeiten noch so düster seien.
Abkehr von brutaler Wirklichkeit Dieser kurze Dialog legt für Gerung eine Interpretation nahe: Die Idealisierung des menschlichen Körpers in den Arbeiten Michaelangelos verdeutliche die Abkehr von der brutalen Wirklichkeit, die durch politische Intrigen, Kriege und andere Grausamkeiten gekennzeichnet gewesen sei. Und dieser kurze Dialog eröffnet Sabenes neues Projekt, das insgesamt aus vier Teilen besteht. Jeder dieser Teile wird von einem anderem Komponisten gestaltet. Der erste Teil etwa von Luigi Esposito, jenem Meister, der Gerung für den Auftrag empfahl. Hans-Jürgen Gerung hat zum Projekt den vierten Teil beizusteuern, der einen Text aus dem Hohelied Salomons folgt: 'Ecce, tu pulchra es, amica mea' (Siehe, du bist schön, meine Freundin). Für die Vertonung erhielt Gerung konkrete Vorgaben. In dem Werk müsse auf Mikrotonalität, komplexe Rhythmen, unaufgelöste Dissonanzen und eine Behandlung der menschlichen Stimme ähnlich einem Instrument verzichtet werden. 'Ich durfte also all das nicht machen, was ich sonst mache', erklärt der Komponist schmunzelnd. Aber das Werk sollte modern sein und eine Form der Ästhetik finden, die der menschlichen Stimme angepasst sei.'Ich war zuerst ratlos', gesteht Gerung. Dann allerdings fand er eine Kompositionspraxis, mit der er zum Ziel gelangte: die Permutation (Vertauschung). Er entwickelte Melodiebänder, die sich übereinanderlegen und gegeneinander verschieben ließen und dabei stets einen neuen und für den Hörer angenehmen Zusammenklang ergeben. Auf diese Weise entstand ein Madrigal für sechsstimmigen Chor und vier Solisten, dessen Reiz in den kleinen Veränderungen liege: 'Die Musik fließt wie ein breiter Strom vorbei, aber sie ist nie gleich.'Gerung reizte der Auftrag aus dem Vatikan trotz der strengen Vorgaben - nicht nur der Reputation wegen, sondern auch aus künstlerischer Sicht: 'Die Begrenzung des Materials kann eine Bereicherung sein.' Doch lieber hat es der Komponist, sich diese Beschränkungen selbst aufzuerlegen, als sie vom Auftraggeber vorgeschrieben zu bekommen. Bei dem jetzt von ihm vertonten Text erscheint Gerung die geforderte Ästhetik aber sinnvoll: Warum sollte jemand hässliche Klänge gebrauchen, um eine Schönheit zu beschreiben?