Artikel: Mit Leib und Seele Schneider

30. Dezember 2002 20:30 Uhr von Allgäuer Zeitung

Ludwig Sontheim (89) aus Ermengerst hat viel über sein altes Handwerk zu erzählen

Von Christine Rothauscher, Wiggensbach-Ermengerst 'Wie du kommst gegangen, so wirst du auch empfangen.' Ein Sprichwort, das Ludwig Sontheim gerne zitiert. Und der Mann weiß, wovon er spricht. Schließlich hat er als Schneidermeister ein Arbeitsleben lang dafür gesorgt, dass Männer und Frauen in seinen maßgeschneiderten Anzügen und Kostümen gut angezogen waren. 'I hab' a schwere Arbeit g'habt, aber i war mit Leib und Seel bei der Sach', sagt der fast 90-Jährige heute. Wer mit Ludwig Sontheim ins Gespräch kommt, sollte sich Zeit nehmen. Viel hat er zu erzählen über sein Handwerk, 'das früher hoch angesehen war und jetzt immer mehr der Massenkonfektion zum Opfer fällt'. Der weißhaarige Senior sagt es mit Zittern in der Stimme und zeigt auf eine Zimmerecke, wo eine schwarzlackierte Nähmaschine steht. Seine 'treue Arbeitskollegin' nennt er die 80 Jahre alte mechanische Nähmaschine. Und als er sich davor auf seinen Schneiderstuhl setzt, wird der 89-Jährige richtig redselig. Dass er gleich nach der Volksschule als Lehrbub beim Wiggensbacher Schneidermeister Josef Herz angefangen hat und dreieinhalb Jahre später seine Gesellenprüfung absolvierte. Und zwar mit einem 'Sehr gut' in Theorie und Praxis, wie in einem schwarzgebundenen Arbeitsbuch aus dem Jahre 1931 nachzulesen ist.

Stets viel zu tun Die Schneiderarbeit sei nie ausgegangen, denn Konfektionsbekleidung, wie sie heutzutage üblich ist, die habe es in seiner Jugendzeit 'so gut wie nicht' gegeben. Um so mehr sei das Schneiderhandwerk in Blüte gestanden. So weiß der geborene Ermengerster noch genau, dass allein in der Gemeinde Wiggensbach noch vor 60 Jahren sechs Schneider ansässig waren. Für ihn selbst war allerdings mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs die Berufskarriere vorerst zu Ende. In der Soldatenuniform stand er in Frankreich und Russland an der Front. Heimgekehrt, machte er bald seinen Meister und eröffnete in seinem Heimatort nahe der Kirche eine eigene Werkstatt. Aus München ließ er sich zweimal im Jahr edle Stoffkollektionen kommen. Wenn auch das 'große Geld' als Schneider nie zu verdienen gewesen sei, 'für Frau und Kinder hat's schon rundum gereicht'. Und wie bereits vor dem Krieg, hatte er in seiner Schneiderwerkstatt wieder alle Hände voll zu tun. 'Denn die Leute hatten in der notigen Zeit nichts Guat's zum Anziehen', erinnert sich der 89-Jährige. An einem Kostüm oder einem Anzug habe er eine ganze Arbeitswoche und nicht selten bis in die Nacht hinein gearbeitet. Eines dieser Modellstücke hängt noch heute in seinem Kleiderschrank. Fast zärtlich streicht er über das feine Wolltuch des Trachtenanzugs. 'So eine Qualität überlebt Generationen', sagt der Handwerksmeister voller Stolz. 30 Jahre lang - von 1946 bis 1976 - kamen Kunden aus dem ganzen Oberallgäu, um in seiner Ermengerster Werkstatt solche Trachtenanzüge anfertigen zu lassen. 'Es war meine Spezialität', sagt Sontheim mit stolzer Stimme. Gleichzeitig schwingt viel Bescheidenheit mit, wenn er aus seinem langen Arbeitsleben erzählt. Dieses hatte übrigens mit seiner Pensionierung als Schneider noch längst nicht aufgehört. Jahrzehntelang brachte der arbeitsame Rentner den Ermengerster Bürgern noch tagtäglich die Allgäuer Zeitung ins Haus. Und heute? Seinen Original-Schneidertisch samt Stoffgestell hat der Handwerksmeister dem Wiggensbacher Informationszentrum (WIZ) zu Ausstellungszwecken geschenkt. Ab und zu, so erzählt Ludwig Sontheim, der am 15. Januar seinen 90. Geburtstag feiert, 'setz' ich mich an meine alte Singermaschine, lass' sie losrattern und denke an damals, als wir zwei aus feinem Zwirn noch Modellkleidung geschaffen haben'.