Marktoberdorf/Ostallgäu | sg | Riesenansturm aufs Modeon: Die Hauptakteurin, Renate Hartwig, wartete schon auf ihren Auftritt, während draußen vor der Tür noch Hunderte von Zuhörern zu der Veranstaltung drängten. Sogar mit Bussen waren sie aus dem ganzen Ostallgäu gekommen, um von Hartwig, der Autorin des Buches "Der verkaufte Patient" und Begründerin der Initiative "www.patient-informiert-sich"zu erfahren, wohin die Reise unseres Gesundheitssystems zu gehen droht. Mit solch einer Resonanz hatten die Ostallgäuer Ärzte, die Hartwig eingeladen hatten, nicht gerechnet, sagt Dr. Markus Strieder, der die Veranstaltung für Marktoberdorf federführend mitorganisiert hatte. Etwa 1500 Zuhörer verfolgten den Vortrag drinnen und draußen mit.
Kurzerhand wurden - soweit es die Sicherheitsvorschriften zuließen - viele weitere Stuhlreihen im Foyer aufgestellt. Auch die Feuerwehr wurde vorsichtshalber zur weiteren Unterstützung angefordert. Denn Hunderte Interessenten drängten sich noch vor der Tür, obwohl kein Einlass mehr möglich war.
Hausärzte klagen über Bevormundung durch Politik, Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigung. Die tägliche Arbeit empfinden sie zunehmend als einen Spagat zwischen medizinischer Notwendigkeit und staatlich verordneter Mangelverwaltung. Um auch künftig eine wohnortnahe medizinische Betreuung zu gewährleisten, suchen sie - so wurde aus mehreren Beiträgen von Ärzten bei dieser Veranstaltung deutlich - den Schulterschluss mit den Patienten. Zwar griffen schon jetzt Kapitalgesellschaften auf das Gesundheitswesen in Deutschland zu.
Aber noch sei es nicht zu spät, dies zu verhindern, meinte Dr. Jakob Berger, Vorsitzender des Bayerischen Hausärzteverbandes im Bezirk Schwaben. "Mensch oder Mammon - steht Rendite über allem?" Diese Frage stand über dem Abend, wie der Moderator, Dr.Hermann Seifert aus Oberbeu-ren, formulierte. Mafiöse Strukturen, so die Rednerin Renate Hartwig, habe sie bei ihren Recherchen rund ums Gesundheitssystem ausgemacht. Der Staat mache sich mehr und mehr aus dem Staub, Privatisierung und "integrierte Versorgung" heiße das Zauberwort, das immer näher rücke und damit die Frage, wie lukrativ es sei, einen Menschen zu behandeln.
"Mehr Zivilcourage"

Gesundheitsversorgung
Heute Ärztestreik: Auch viele Praxen in Bayern bleiben geschlossen
Sie warnte vor Zuständen, wie sie in den USA etwa mit dem Versicherungskonzern Kaiser Permanente schon bestünden. Als "Schlangengrube" bezeichnete sie den wachsenden Gesundheitsmarkt, auf den sich Konzerne wie die Hyänen stürzten. Das Publikum rief sie zu mehr Zivilcourage auf. "Wir müssen in unserer kleinen sozialen Welt näher zusammenrücken und dürfen uns nicht den Haien überlassen", forderte sie zum Handeln auf und bekam dafür tosenden Applaus. Über die elektronische Patientenkarte "will man an unsere Daten kommen", mahnte sie. Und wie noch vieles andere an diesem Abend prangerte sie den Einsatz von "Healthways", einem amerikanischen Dienstleister im Gesundheitswesen, durch die DAK an. Healthways komme so via Callcenter an Daten chronisch kranker Patienten.
Mut zum Wahrnehmen und Mut zum Mitreden hat sich die Bestsellerautorin auf die Fahnen geschrieben. Dies machte sie auch im Modeon sehr deutlich. Auch in der anschießenden Diskussion, als eine Zuhörerin fragte, was der "kleine Mann" denn tun könne. "In Frankreich würde mir keiner diese Frage stellen", meinte Hartwig. "Wir können was tun, wir sind die Masse." Ihr Ziel sei ein bundesweiter Bundesentscheid zur geplanten Gesundheitsreform, die ihrer Ansicht nach "in die Tonne" gehöre.
In Marktoberdorf wurde nach der Veranstaltung ein Patientenstammtisch ins Leben gerufen. Er findet statt am 12. August, 19 Uhr, im Modeon-Nebenraum.