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"Meine Kindheit ist verloren gegangen"

Mindelheim / Günzburg

"Meine Kindheit ist verloren gegangen"

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    Jahrelang hat er versucht, die Erinnerung auszublenden. Es ging nicht. Sie hat sich fest in sein Gedächtnis eingebrannt. "Man vergisst es nicht", sagt der Familienvater aus dem Landkreis Günzburg, der heute mitten im Leben steht. "Nie." Als wäre es gestern gewesen, hat er den Abend in den 1980er-Jahren am Mindelheimer Maristenkolleg noch genau vor Augen.

    Weil er etwas ausgefressen hatte, musste er - so sein Bericht - mit einem Freund nachts beim Erzieher antreten. Es war nach 21 Uhr. Die beiden durchschritten den langen Gang bis zu dem Zimmer, in dem der Mann wartete. Sie klopften, er bat sie herein. Sie setzten sich. Der Erzieher soll daraufhin den Buben Bier spendiert haben. Sie waren keine 14 Jahre alt. Sie redeten über den abgelaufenen Tag. Dann soll der Erwachsene angefangen haben, den Freund am nackten Oberkörper zu massieren. "Schnell weg, dachte ich mir." Er gab vor, müde zu sein. Der Freund blieb wohl, weil der Erzieher andeutete, mit ihm noch etwas besprechen zu müssen. "Ich bin zurück aufs Zimmer. Ich bin hellwach im Bett gelegen und habe gewartet. Ich dachte: Jetzt komm endlich." Nach einer Stunde kam er. "Ob er geheult hat oder nicht, weiß ich nicht mehr. Aber er war ein ganz anderer. Wir haben fast kein Wort mehr gewechselt."

    Mehr als 20 Jahre danach spricht sich der Mann frei. Er offenbart sich. Er will, dass das "System von Gewalt" von damals ans Tageslicht kommt. Prügel wäre beinahe an der Tagesordnung gewesen. Es sei meist im Verborgenen geschehen. Den damaligen Internatsleiter bezeichnet er als "Schläger". Einmal soll dieser ihn nachts auf einem Gang abgepasst haben. Um diese Zeit durfte niemand mehr auf den Beinen sein. Ohne Vorwarnung habe ihn der Internatsleiter gepackt und auf ihn eingeschlagen. So lange, bis er am Boden gelegen habe. Nach einigen Minuten sei das Martyrium zu Ende gewesen. Ein anderer Schüler soll von einem Frater einmal so heftig verprügelt worden sein, dass er mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus musste.

    Gewalt und Erniedrigung

    Die Gewalt an der damaligen Einrichtung sei Methode gewesen. Dahinter hätten der Internatsleiter und eine Erzieherin gesteckt. Die zumeist konservativen Frater hätten das System gedeckt. Neben Gewalt gehörte offenbar auch die Erniedrigung zum Spektrum der Erziehungsmaßnahmen. So beschreibt es der ehemalige Schüler. Die Buben durften nach seinen Angaben im Bett keine Unterhosen tragen. Eine Erzieherin soll die Regel kontrolliert haben - vor der Nachtruhe kam sie wohl in jedes Zimmer. Nicht nur einmal habe er sich dagegen gewehrt. Die Folge waren nach seiner Aussage Sanktionen. Die Eltern blieben damals die einzige Anlaufstelle. "Man hatte nur noch die Eltern und das System", erinnert sich der frühere Schüler. "Meine Kindheit ist in dieser Zeit verloren gegangen."

    In einer Stellungnahme zum Fall des früheren Schülers schreibt Frater Alois Engel, der Beauftragte der Maristen für Deutschland: "Uns Maristen ist es daran gelegen, Licht in diese Zeit zu bringen." Engel hatte mit vier Ehemaligen aus dieser Zeit Kontakt gehabt, die über verschiedene Vorgänge durch den weltlichen Erzieher berichteten. Bis jetzt habe keiner von ihnen sagen können, "dass sie ganz konkret von einem sexuellen Missbrauch wissen. Einer sagte, es könnte einen Fall gegeben haben."

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