Fast 8600 Kilometer östlich von Kaufbeuren und Irsee liegt inmitten schier endloser Steppen und Halbwüsten Qaraghandy. Die heute viertgrößte Stadt Kasachstans entstand in der Zarenzeit um 1856 als Bergarbeiternest, wurde aber schon 1934 unter dem sowjetischen Diktator Stalin zur Stadt erhoben – bereits damals war es ein gigantischer Industriekomplex. Vor dieser Kulisse wurde vor 33 Jahren Harmut F. (Name geänd.) geboren, der nun einer der Leiter auf dem Hof der Hoffnung in Bickenried zwischen Irsee und Kaufbeuren ist. Dort werden Menschen mit Drogenproblemen auf christlicher Basis auf ein Leben ohne Sucht vorbereitet.
40 Grad minus
F. kam am 18. März 1996 als Russlanddeutscher in die Bundesrepublik. Schon vom Flugzeugaus sah er grüne Wiesen, hügelige Landschaften mit Wäldern und individuelle Architektur – statt der gewohnten Steppe und grauen Gebäude. Als er aus dem Flieger ausstieg, herrschten zudem angenehme Temperaturen. 'Ich wohnte dort, wo es kalt ist. Bei uns gab es manchmal bis weit unter 40 Grad minus. Deutschland war für mich erst einmal das Paradies. Hier sollte mein neues Leben beginnen', erinnert sich F.. Als er geboren wurde, existierte noch die Sowjetunion. Zwar lebte er nicht in der üblichen Plattenbausiedlung, wohl aber in einem Ghetto: 'Das Viertel war ein ehemaliges Gefangenenlager.
' Schon der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn schrieb über Qaraghandy, es sei 'die größte Provinzhauptstadt des Archipel Gulag', also des sowjetischen Zwangsarbeitersystems. In diesem trostlosen Barackenghetto wuchs F. bei seiner Mutter auf, nachdem der alkoholkranke Vater sie verließ. Der Junge trug mit Kleinkriminalität zum Unterhalt der Familie bei und konsumierte erstmals mit neun Jahren Alkohol: 'In Russland trinkt man alles, selbst Spiritus. Er hat zwar nicht geschmeckt, aber angetörnt.' Seinen Hauptschulabschluss schaffte F., doch Arbeit gab es dann nicht.
Hoffnung kam nur manchmal in Form von Paketen aus Deutschland: Da nämlich seine Vorfahren sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits von dort stammten, schickten Verwandte Hilfe. Als F. 18 Jahre alt war, reiste die komplette Familie in den Westen aus. Doch das Ideal von Deutschland, das er hatte, zerfiel in der Realität.

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F. war in vier Heimen für Russlanddeutsche, durfte aber weder einen Sprachkurs machen noch arbeiten: Er sollte seinen Quali nachholen, was natürlich an der Sprache scheiterte. Stattdessen saß er in Augsburg in einem Heim mit Russlanddeutschen: 'Und die russische Volkskrankheit ist Alkohol. Also tranken wir.' Doch dabei blieb es nicht: Ein Kumpel schenkte ihm Heroin, bis der Spender schließlich im Knast landete. Nun musste F. sich die Droge selbst besorgen und mangels Arbeit finanzierte er sie durch Beschaffungskriminalität: Diebstahl und Einbruch.
Es folgte eine Spirale aus Gefängnisaufenthalten und Kriminalität, Therapien und Drogendelirien sowie seltenen Glücksmomenten: Einmal hatte F.eine Freundin und mit ihr zusammen ein Kind. 'Aber da waren mir die Drogen wichtiger als die beiden.'
Schließlich brach er sich auf der Flucht vor der Polizei beide Füße. 'Als ich erwachte, gab ich mir noch ein Jahr zum Leben', so F., der zuvor fünf Überdosen überlebte. Er meldete sich deshalb freiwillig für die Maßnahme 'Therapie statt Strafe' auf dem Hof der Hoffnung in Bickenried (Fazenda da Esperança), der ehemalige Suchtkranke durch Gemeinschaft, Glauben und Arbeit wieder in ein geregeltes Leben zurückbringen will.
Doch selbst dort saß ihm die Droge ihm Genick. Als ihn deshalb die Justiz nach einem Rückfall ins Gefängnis schicken wollte, unternahm F., unterstützt von Pater Christian Heim von der Fazenda, ein Gnadengesuch an den Bayerischen Landtag. F. hatte schon keine Hoffnung mehr, als der Landtag im Juli dem Antrag stattgab. 'Heute trägt er Verantwortung mit und ist ein großes Licht, eine Hilfe auf dem Hof', berichtet Heim.
'Die Gnade Gottes'
Er übertrug F. deshalb die weltliche Co-Leitung des Hofes zusammen mit Frank Burkhardt. F. koordiniert nun die anfallende Arbeit, aber packt auch selbst an – ob im Stall oder bei einer verstopften Toilette. Dazu begleitet er die Gottesdienste auf dem Hof auf der Gitarre und backt sogar Schwarzwälder Kirschtorte.
'Ich habe noch nie so schnell gelernt wie hier. Ich glaube, ich erlebte die Gnade Gottes. Das löste viele Knoten in mir', erzählt F. Deutschland soll nun doch zumindest sein kleines Paradies werden. 'Ich habe auch keine Verwandte mehr in Kasachstan.' Jetzt ist der Hof seine Familie. Doch später will er auch eine eigene gründen.