Von Veronika Krull |OberstdorfEine Deutschstunde - nicht von Siegfried Lenz, sondern von seinem Dichterkollegen Hans Magnus Enzensberger (78) und ungleich vergnüglicher - gab es im Oberstdorf-Haus. "Holz, aus dem ein guter Deutschlehrer geschnitzt sein sollte", meinte denn auch Andreas vom Gymnasium Immenstadt anerkennend am Ende. Der 19-jährige Deutsch-Leistungskursler wurde mit zahlreichen weiteren Schülern der drei Gymnasien Oberstdorf, Sonthofen und Immenstadt Zeuge einer lebhaften (Vor-)Lesung zur Dichtkunde.
Enzensberger, in Kaufbeuren geboren und jetzt in München lebend, war aus Anlass einer Veranstaltung zum hier geborenen Auoren W. G. Sebald ins Allgäu gekommen.
"Lyrik nervt!": Den tiefen Seufzer aus so manchem Schülermunde machte Enzensberger zum Thema seines Vortrags. Fleißig und genuss-voll zitierte er aus dem gleichnamigen Buch eines gewissen Andreas Thalmayr - seines schriftstellerischen "Zwillings". Der Name sei ganz zufällig entstanden, verriet der "Doppelgänger" nach der Lesung, aber er klinge "so schön bayerisch".
Enzensberger, der von 1965 bis 1975 das berühmte "Kursbuch" herausgegeben und großen Einfluss auf die Studentenbewegung genommen hatte, stand im vollbesetzten Saal entspannt auf dem schwarzen Podest, leger gekleidet in blauem Jackett und brauner Cordhose, gerahmt von künstlichen Sonnenblumen.
So lässig Auftritt und Outfit, so lebhaft seine Sprache und Gestik. Ebenso engagiert fiel sein Plädoyer für die Poesie aus. Seine Definition ist knapp: "Der Kern, wo alles hervorsprießt." Außerdem, schmunzelt er, sei die Poesie ideal "für Leute, die weniger geduldig sind".
Allerdings glaubten viele, Poesie sei etwa Rätselhaftes, eine "Spezialsache für Minoritäten". Aber die Dichtung beginne doch schon im Kindergarten mit "Ene, mene, muh " oder dem Liedlein "Alle meine Entchen". Enzensberger strich sich über das weiße Haar und sagte: "Die Welt ist viel voller mit Gedichten, als die meisten Leute glauben."
Der Wortkünstler zog seine Zuhörer - Gymnasiasten, Lehrer und interessierte Bürger - in seinen Bann. Atemlos lauschten sie seiner lautbetonten Jandl-Interpretation vom "schtzngrmm", amüsierten sich mit ihm über den "Hadschi von Qass" oder wurden nachdenklich bei Brechts "Plattkopf".
Besonders bei seinem jungem Publikum erntete er höchste Aufmerksamkeit mit dem deftigen Sonett-Verriss von Robert Gernhardt ("unheimlich beschissen"). Tatjana (18) vom Gymnasium Sonthofen wunderte sich hernach: "Das hatten wir schon mal in der Schule. Aber kürzer und ohne Schimpfwörter." Sie hatte sich den Dichter Enzensberger "viel negativer" vorgestellt. "Au weia", war auch die erste Reaktion ihres Schulkollegen Markus (17) als er von der Lesung erfuhr. Aber es habe ihm "gut gefallen". Und Judith Trost, Referendarin für Englisch und Sozialkunde in Oberstdorf, kommentierte: "Sehr erfrischend."