Artikel: Heimstatt für erkrankte Seelen

23. Dezember 2002 20:30 Uhr von Allgäuer Zeitung

39 Erwachsene leben und arbeiten im Schimmelreiter Einrichtung besteht 25 Jahre Von Brigitte Horn Wertach Liebevoll mit zahllosen Bastelarbeiten und Bildern ausgestaltet, ist das Haus Schimmelreiter samt Sonnenterrasse, großem Garten und allerlei Getier vielen seiner Bewohner längst zu einem Stück Heimat geworden: Seit einem Vierteljahrhundert leben und arbeiten hier Menschen mit psychischen Erkrankungen. Und manche der 39 Frauen und Männer zwischen 37 und 87 werden wohl auch für immer hier bleiben. Aber ihre zwölf Betreuer setzen auch darauf, vor allem den jüngeren Schützlingen durch Fördern und Fordern so viel Selbständigkeit zu vermitteln, dass sie dem Schimmelreiter eines Tages den Rücken kehren können. Während am Samstag und Sonntag Relaxen angesagt ist, wird der Tagesablauf unter der Woche genau geregelt: Weil etliche Schützlinge schon morgens Unterstützung beim Waschen und Anziehen brauchen, ist das Frühstücksbüfett erst ab 8 Uhr angerichtet. Es folgen zwei Stunden Arbeitstherapie, das Mittagessen und noch einmal drei Nachmittags-Stunden Beschäftigung. Bis zum Abendbrot gehen dann viele der Frauen und Männer zum Einkaufen oder Kaffeetrinken ins Dorf hinunter. Denn das offene Haus bietet Ausgang nach Wunsch. Und das Abmelden klappt zuverlässig, so Andreas Neidhart, schon neun Jahre Sozialpädagoge in Wertach und seit 2001 Heimleiter. Wie intensiv die Bewohner in die Arbeit eingebunden werden, hängt von ihrer Belastbarkeit ab. Und was sie tun wollen, entscheiden sie selbst. Zur Wahl stehen neben Hauswirtschaft, Küche und Waschküche die Webstube und die Töpferei. Ob Weihnachtsglöckchen, Obstteller, Gartenkugeln oder Windlichter die acht geschickten Ton-Arbeiter fertigen eine hübsche Vielfalt an Nützlichem und Schmückendem.

Aber auch die 13 bis zu drei Meter breiten Webstühle stehen kaum still, haben doch die Schafwoll- und Allgäuer Fleckerlteppiche à la Schimmelreiter in der Region einen guten Namen. So fertigt gerade die Webstube viel auf Bestellung, richtet sich bei Mustern und Größen ganz nach den Kundenwünschen. Natürlich sind die Mitarbeiter stolz, wenn ihre Produkte an den Mann gebracht werden; jeder Verkauf ist auch ein bisschen Selbstbestätigung. Die Preise sind günstig (z. B. ein Quadratmeter Schafwollteppich 41 Euro), und das Geschäft floriert. Weil Webstube und Töpferei als Art Selbsthilfe-Einrichtung laufen die Gehälter des Personals zahlt der Bezirk Schwaben kann der Schimmelreiter in seinen Werkstätten nach Abzug von Materialkosten, Reparaturen und neuen Geräten sogar noch ein kleines Plus erwirtschaften. Daraus wird den Bewohnern ein 40-Euro-Lohn gezahlt jene Summe, die Sozialhilfeempfängern noch nicht vom Taschengeld abgezogen wird. Bleibt unterm Strich zusätzlich was übrig, machen wir alle zusammen einen schönen Ausflug, so Andreas Neidhart. So fühlen sich viele der psychisch Kranken in Wertach rundum wohl vier von ihnen schon seit der Schimmelreiter-Gründung vor 25 Jahren. Wobei zur guten Atmosphäre auch Haushund Momo, ein paar Hasen und Meerschweinchen, eine Katze und ein Nymphensittich beitragen. Viele der Frauen und Männer, die keine Angehörigen mehr haben oder deren Familien mit ihrer Pflege überfordert wären, werden wohl auch ihren Lebensabend hier verbringen. Bei etlichen Bewohnern hat sich das Betreuer-Team jedoch zum Ziel gesetzt, sie in kleine Wohnungen oder Betreutes Wohnen zu entlassen. Und weil die Erfahrung gezeigt hat, dass die auf sich allein gestellten Kranken zwar meist psychisch stabil bleiben, aber erhebliche Probleme mit ihrer hauswirtschaftlichen Versorgung haben, übt sich derzeit eine kleine Gruppe in praktischen Dingen: Vom Wäsche- waschen bis zum Essen kochen trainiert eine Handvoll Bewohner das ganz normale Leben um dem Schimmelreiter eines Tages ade sagen und nach langen Heim-Jahren erstmals ein selbstverantwortliches Leben führen zu können.