60 Jahre ist es her, dass die Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde. Eine Zeitspanne mit vielen Emotionen und Ereignissen, die auch an den Menschen in und um Buchloe nicht spurlos vorübergegangen sind. Beginnend mit den Nachkriegsjahren (1949-1959) über das Wirtschaftswunder (1960-1969), die wilden 70er (1970-1979) und die Zeit vor (1980-1989) sowie nach der Wiedervereinigung (1990-1999) bis hin zur ersten Dekade des neuen Jahrtausends (2000-2009) lässt die BZ in einer Serie diese 60 Jahre nochmals Revue passieren - und dabei auch etliche Zeitzeugen zu Wort kommen.
Buchloe Am 28. August 1991 kam Kerstin Neubert mit ihrem Mann Christian und ihren vier Kindern in Waal an. Knapp 600 Kilometer und mehrere Stunden Autofahrt lagen hinter der Familie aus der Nähe von Magdeburg. An ihre Ankunft im Ostallgäu erinnert sich die 52-Jährige heute noch genau: «Wir haben die Wohnung eingeräumt und sind danach sofort nach Füssen gefahren. Den Anblick, der sich uns dort bot, werde ich nie vergessen.» Malerische Berge, blau-weißer Himmel und grüne Wiesen. «Bis dahin dachte ich, so eine Landschaft gibt es nur auf Postkarten.»
Nicht ganz ein Jahr lag die Wiedervereinigung zurück. Nach 40 Jahren der Teilung war Deutschland wieder «einig Vaterland». In den unruhigen Zeiten der Wende verloren sowohl Kerstin und ihr Ehemann ihre Arbeit.
Bei der Jobsuche stolperte das Ehepaar über ein Angebot des Pflegeheims Waal, das ein neues Pflegepaar suchte. «Als wir uns damals beworben haben, wusste ich nicht einmal, wo Waal liegt», gibt Kerstin Neubert mit einem herzlichen Lachen zu. Die Anstellungen erhielt das Ehepaar trotzdem - einer Absage für das erste West-Klischee inklusive. «Im Osten hat jeder zu mir gesagt, als Mutter von vier Kindern findest du im Kapitalismus nie eine Anstellung», erzählt Neubert: «Aber das hat sich als genauso falsch herausgestellt, wie die Annahme, dass man im Westen ausgebeutet wird oder alles viel besser und leichter ist.»
Aber auch von der anderen Seite habe es Vorurteile gegeben. «Gängig war die Annahme, dass wir im Osten schlecht ausgebildet sind. Viele waren dann positiv überrascht, als wir sie vom Gegenteil überzeugten», erzählt die heutige Pflegedienstleiterin. Allen Klischees und Vorurteilen zum Trotz sei die Familie in Waal ausgesprochen herzlich aufgenommen worden. «Lediglich die Kinder hatten in der ersten Zeit nach ihrer Einschulung mit Hänseleien zu kämpfen», berichtet sie: «Aber das war die einzige negative Erfahrung und auch bald wieder vorbei.»

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Daneben bot sich der Familie in vielen Lebensbereichen völliges Neuland. «Ungewohnt war, dass wir uns jetzt plötzlich um alles selber kümmern mussten. Im Osten hat ja der Staat das Meiste für einen geregelt. Wenn dein Kind zur Impfung musste, hast du einen Behördenbrief bekommen.
Wenn Schuleinschreibung war, kam ein Schreiben von der Behörde», erzählt Neubert. Die größte Umstellung sei jedoch das Einkaufen gewesen. «Am Anfang habe ich erst einmal gar nichts gekauft, dann viel zu viel», berichtet sie. Zu verwirrend seien Angebots- und Preisvielfalt gewesen. «Im Osten gab es immer nur ein Brot. Und das hat auch immer und überall 97 Pfennig gekostet», so die 52-Jährige: «Bei Waschmittel, Seife und Wurst war es ähnlich.»
Mittlerweile sind 18 Jahren vergangen. Kerstin Neubert nennt Waal ihre Heimat. Dass so lange Zeit nach der Wiedervereinigung das Ost-West-Denken aus vielen Köpfen immer noch nicht ganz verschwunden ist, kann sie nicht nachvollziehen. «Obwohl viele Vorurteile abgebaut wurden, existiert in vielen Köpfen noch die Mauer.
» Dabei seien 40 Jahre Teilung im Verhältnis zur ganzen deutschen Geschichte ja nur ein kleiner Teil. Neubert: «Wir haben eine Kultur. Goethe und Schiller gehören uns gemeinsam. Doch das vergessen viele oft.»