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Artikel: Feilen an den großen Gefühlen

17. Oktober 2008 00:00 Uhr von Allgäuer Zeitung
matthias becker

Theatertage 105 Jugendliche erleben Begegnungen und viel Spaß in den Workshops

Von Ingrid Grohe |LindenbergDas mit dem Küssen ist nicht so ganz einfach. "Er legt bloß die Lippen auf meine. Mehr nicht - das haben wir so beschlossen", erklärt Nadja Eckart. Und überlegt laut: "Es ist ja nicht so schlimm. Aber mit jedem anderen würde ich das nicht machen." Er, das ist Martin Holderied. Der 18-Jährige vom Gymnasium Lindenberg ist bei den Theatertagen in die Rolle von Romeo geschlüpft. Also hat Nadja von der Lindenberger Hauptschule - alias Julia - nicht nur mit ihm zu sterben, sondern zuvor ihn auch zu küssen. Bis Samstag klappt das bestimmt.

Am Samstagnachmittag ab 14 Uhr ist nämlich der große Auftritt. 105 Kinder aus sieben verschiedenen Schulen stellen bei der Abschlussveranstaltung der 2. Offenen Lindenberger Theatertage die Ergebnisse der dreitägigen Workshops vor.

In der Gruppe des österreichischen Schauspielers Martin Sommerlechner werden die großen Gefühle geübt, wie sie William Shakespeare so üppig in seinen Dramen ausformuliert hat. "Das muss was Erbärmliches haben", kommentiert Sommerlechner einen Kampf auf Leben und Tod zwischen Mercutio und Tybalt. Einem dritten Mimen ruft er zu: "Und Du schrei, wenn Du erstochen wirst!"

Die Atmosphäre im Kreis der jungen Schauspieler ist konzentriert, aber dennoch locker. Sie haben viel Spaß, auch bei den blutigen Szenen. Da wird über die richtige Kampfstrategie diskutiert, man feuert die Kontrahenten an und applaudiert den letzten Zuckungen des Mercutio. Gemeinsam interpretieren sie den Stoff (ein Shakespeare-Medley) und feilen an der Darstellung.

Wesentlich jüngere Schülerinnen und Schüler hat Katrin Stehle um sich geschart. Verstreut am Boden liegt das ganze Instrumentarium, das ein Gauklertheater ausmacht: riesige, ausgebeulte Schuhe, eine bemalte Kiste, Perücken, Mäntel und eine Plastikglatze. Fast jedes Kind hat einen roten Schaumstoffball vor die Nase gebunden. Liam von der Praxisklasse der Hauptschule Lindenberg hat sich schon am ersten Tag als Talent erwiesen.

Souverän lässt er drei Bälle zwischen seinen Händen tanzen. "In einem Tag habe ich jonglieren gelernt", sagt er stolz.

Ein paar Zimmer weiter sitzt Julian vom Gymnasium Dornbirn auf einem Stuhl und versucht stillzuhalten. "Schleck den Mund nicht ab", kommandiert ein Mädchen, das mit Pinseln bewaffnet vor ihm steht. Julian gehört zu den Gauklern und lässt sich - schwarz-weiß - als Harlekin schminken. Die Schulkameradin, die an ihm arbeitet, hat sich im Workshop Schminken und Bodypainting bei Ria Diet angemeldet. Die Klientel ist überwiegend weiblich und lässt sich leicht von Diets Begeisterung anstecken: "Beim Schminken entwickelst Du den Mut, auf andere zuzugehen. Du kannst andere verwandeln, Du kannst sie verzaubern", verspricht sie. Die Maskenbildnerin ist beeindruckt, welch phantasievolle Muster und Bilder auf Wangen, Nasen und Händen entstehen.

Die Hände stehen im Mittelpunkt bei Josef Calta. Wenn der Theaterlehrer das Kommando gibt "Alle ins Versteck", meint er die Hände seiner Workshopteilnehmer, die dann ihre weißen Handschuhe hinter dem Rücken verbergen. Sie sind ansonsten schwarz gekleidet. Die Gruppe macht vergleichsweise einfache Übungen mit großem Effekt: Hände tanzen in der Luft, werfen einander - im Zeitlupentempo - einen Ball zu. Hin und her, begleitet von klassischer Musik. Im Schwarzlicht entwickelt sich so ein sehr poetisches Bild. "Das sieht voll geil aus", flüstert ein Mädchen, das andächtig zuschaut.

Bei Shakespeare haben sich inzwischen drei Jungs nebeneinander zusammengekauert. Sie bilden das Grab, auf dem die scheintote Julia aufgebahrt liegt. Ein paar andere sollen den steinernen Hintergrund darstellen. "Gemäuer, Gemäuer", kichern sie vor sich hin, wie um sich selbst an ihre statische Rolle zu erinnern. Da fällt es Martin nicht ganz leicht, als Romeo den Giftbecher zu leeren und schmerzhaft zu sterben. Minuten später hat sich auch das "Gemäuer" wieder gefasst und beobachtet erschüttert, wie Nadja-Julia sich den finalen Dolchstoß versetzt.

"Wenn es gelingt, auch nur für kurze Zeit, aus den Augen einer anderen Figur geschaut zu haben, haben wir gewonnen", sagt Martin Sommerlechner über die Theaterarbeit. Die 105 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Lindenberger Theatertage haben schon vor dem Schlussapplaus gewonnen.