Im Frühjahr 2010 legte ein Vulkanausbruch auf Island den Flugverkehr über Teilen Europas lahm. Inzwischen gab es eine extreme Hitze und viel Regen. Besteht da ein Zusammenhang? Wenn es nach dem englischen Vulkanologen Clive Oppenheimer (Universität Cambridge) geht, ja. Er hat nach Parallelen in der Geschichte geforscht und festgestellt: Extremes Wetter und einen Vulkanausbruch in zeitlicher Nähe gab es auch vor knapp 200 Jahren. Der Ausbruch des Tambora (Indonesien) 1815 hatte sogar weit schlimmere Folgen - doch wussten die Menschen in Europa damals nicht, dass ein Grund ihres Elends dieser Vulkanausbruch war.
Allgäuer Chroniken beschreiben das Hungerjahr 1817 als Folge der Missernten 1816, verursacht von extremem Wetter: nasse, schneereiche Wochen um die Jahreswende 1815/16 erstickten die Saat, Hitze im Januar und Februar, nach anderen Quellen im März und April, schädigte auch die Sommersaat. Schließlich vernichteten Dauerregen und Unwetter größtenteils den Rest der möglichen Ernte.
Wasser verdarb das Heu
Im Ostallgäuer Blöcktach gab es ab 14. Juli 1816 eine schöne Woche. Sie endete am Sonntag, 21. Juli, mit einem furchtbaren Unwetter.
Am Montagmorgen bot sich den Menschen laut Chronist Philipp Guggemos ein grauenvolles Bild: "Die Straße zeigte metertiefe Löcher, die Böden und Scheunen der Bauernhäuser waren vollständig verschlammt und hatten sich teilweise gehoben, das Heu in den unteren Lagen war durch das Wasser verdorben." Ställe und Stuben hatten die Wassermassen überflutet. Tags darauf verhagelte es die Fluren in einem breiten Streifen bei Marktoberdorf. Andere trifft es später: Schon im Oktober schneit es nicht nur in den Bergen; bis Weihnachten hört es nur selten auf. Häufig erfriert nun, was bisher nicht verfault war. Im November und Dezember versuchen viele, Kraut und Kartoffeln aus dem Schnee zu graben. Schätzungen zufolge bleibt im Allgäu die Ernte unter einem Drittel des Üblichen. Der Hunger ist da.
Alfred Weitnauer hat zusammengetragen, wie die Region darauf reagierte. Demnach wird in Isny wird eine Suppenküche eingerichtet. Im Westallgäu sind "viele Eltern nicht mehr in der Lage, ihren Kindern ein Stück Brot zu verschaffen. Blass und abgemagert gehen die Leute umher, manche treibt der Hunger zum Selbstmord; man kocht Wurzeln, Klee, Brennesseln und Heu." In Scheidegg und in Heimenkirch essen die Leute Hunde und Katzen. In Füssen ernähren sich die meisten von Kaffee, "der noch das wohlfeilste Lebensmittel ist". In Kaufbeuren kochen die Leute Brennesseln, Blätter, Blut und faules Fleisch. Metzger, Bäcker und Brauer sind die Herren der Preise und werden reich.
1817 wird zunächst alles noch schlimmer. "Kaum ermessbare Not" überliefert die Blöcktacher Chronik. Der Frühling bleibt sehr kalt, und die Missernte des Vorjahres haben Spekulanten genutzt, alle erreichbaren Vorräte aufgekauft, um jetzt die Preise nach Belieben zu diktieren, das heißt, noch vorhandene Nahrung für die meisten unbezahlbar zu machen und an Wohlhabende auch in andere Länder zu verkaufen.
Es kursiert eine "Gründliche Anleitung zur Mehl- und Brotbereitung aus Holz". Aus Württemberg und Bayerisch-Schwaben wandern über 15 000 Menschen nach Russland aus. Hiergebliebene suchen ihr Überleben zunehmend als Bettler, Landstreicher und Diebe. Permanente Feldwachen sollen Hungernde daran hindern, Saatkartoffeln oder Setzlinge auszugraben.
Musik und Blumen zur Ernte
König Max I. Joseph von Bayern lässt in Russland Getreide kaufen und auch im Allgäu verbilligt anbieten. Mitte des Jahres kommt die Wende. Es wird warm, mit Glockengeläut empfangen die Menschen häufig die ersten Wagen mit der neuen Ernte. Kaufbeuren zum Beispiel bietet am 11. August auch Böller und eine Musikkapelle auf, dazu mit Blumen und Girlanden geschmückte Häuser. "Gründliche Abhilfe von der Teuerung", schreibt der Blöcktacher Chronist Guggemos, "brachte aber erst die außerordentlich günstige Ernte von 1818 und 1819. Nun konnte endlich auch der Ärmste wieder Brot essen, das vielen schon unbekannt und fremd geworden war."
Was Zeitgenossen und nachfolgende Generationen nicht wussten, erklären Forscher wie der Vulkanologe Oppenheimer mittlerweile so: Der Ausbruch des Tambora 1815 war der gewaltigste seit etwa 25 000 Jahren. Das ausgeworfene Material veränderte weltweit das Klima. In Nordamerika und Europa kam es 1816 daher zum "Jahr ohne Sommer". Missernten und eine erhöhte Sterblichkeit unter Nutztieren in Teilen der nördlichen Hemisphäre führten dort zur schlimmsten Hungersnot des 19. Jahrhunderts.
Was der Vulkanologe nicht schreibt, wussten wiederum die Zeitgenossen besser: Ohne die Gier der Spekulanten hätte die Missernte weniger Elend gebracht.