Kempten(bil). - Elmar Lechner hat seit drei Jahren tagtäglich mit dem Tod zu tun. Er ist Staatsanwalt als Gruppenleiter bei der Kemptener Justiz. Sobald die Frage offen ist, ob jemand eines natürlichen Todes gestorben ist oder nicht, landet der Fall auf seinem Schreibtisch. Ob Selbstmord, Totschlag oder Mord - wenn Lechner entspannt in seinem Büro im dritten Stock der Kemptener Staatsanwaltschaft sitzt, wirkt er, als könne ihn nichts, aber auch gar nichts erschüttern. Doch der Schein trügt. 'Es gibt Fälle, die einen sehr betroffen machen', gesteht der 49-Jährige. Der vom Pfleger Stephan L. ist so einer. 'Jedes Mal sind es einzelne Schicksale', sagt der Staatsanwalt mit Blick auf die Akten der Verstorbenen auf seinem Schreibtisch. Egal, ob sich ein älterer Patient nach einem Oberschenkelhalsbruch nicht mehr erholt, ein Kind kopfüber in einen Bottich fällt und ertrinkt oder ein Familienvater beim Langlaufen plötzlich tot zusammenbricht, erinnert sich Lechner an einige seiner Fälle. Doch der von Stephan L. ist anders. 'Dass ein Mensch in so kurzer Zeit so viele andere Menschen tötet', macht den Staatsanwalt besonders betroffen. Mindestens 16 Menschen innerhalb von eineinviertel Jahren. So viel hat der 26-jährige Krankenpfleger gestanden, umgebracht zu haben. Wenn ein Mord passiert, nachdem sich eine Beziehung über lange Zeit fatal zugespitzt hat, kann Lechner die Beweggründe des Täters zumindest nachvollziehen - 'auch wenn es nie zu tolerieren ist', fügt er hinzu. Aber im Fall Stephan L.? Der Staatsanwalt schnauft hörbar aus und lässt die Frage offen. Rechts neben ihm erinnert ein Chagall-Poster an einen Betriebsausflug der Staatsanwaltschaft, zur Linken ein Druck von Venedig an eine Kurzreise mit seiner Frau. Mittlerweile kann er den Fall gedanklich im Büro lassen, wenn er abends die Tür hinter sich schließt, sagt Lechner. Das sei aber nicht immer so gewesen. 'Der Fall hat mich auch schon im Schlaf beschäftigt', gibt er zu. In der ersten Zeit seien ihm Fragen durch den Kopf gegangen wie: 'Was ist zu tun? Mache ich alles richtig, wenn ich dies oder das mache? Übersehe ich etwas, von dem das Gericht nach einem Jahr meint, dass man das hätte sehen müssen?' Kein leichter Fall. Handelt es sich doch um die größte Tötungsserie, die es in Deutschland seit Kriegsende gegeben hat. Nie zuvor wurden so viele Exhumierungen wegen eines Täters durchgeführt. Dass sie alle nötig sind, davon ist Lechner nach wie vor überzeugt. 'Jeder Verstorbene ist ein Einzelschicksal, das will ich auch einzeln schildern', sagt der 49-Jährige. Anfangs habe er nicht gedacht, dass etliche Hinterbliebene 'in Mark und Bein getroffen sind', wenn verstorbenen Angehörigen exhumiert werden, räumt Lechner selbstkritisch ein. Mitterweile ist ihm aber klar: 'Ich würde genauso reagieren.' Deshalb hat er auch Verständnis dafür, wenn Angehörige bei ihm anrufen. Dem Staatsanwalt zufolge haben sich bisher sechs Personen gemeldet, die im Prozess gegen des Pfleger auch als Nebenkläger auftreten wollen.
Kopf frei beim Sport Den Kopf frei von Mord und Totschlag bekommt Lechner beim Sport, wie er sagt. Nach der Arbeit drei-, viermal pro Woche eine Stunde ab aufs Rennrad oder joggen, die Gedanken einfach durch den Kopf fließen lassen - 'dann fängt der Feierabend an'. Dann seien auch die Gedanken an den Fall Stephan L. weg, so der dreifache Familienvater. Er erzählt, dass sein Vorgänger bei Mordermittlungen, Oberstaatsanwalt Dr. Willi Nagel, ihm geraten habe, Zuhause nicht alles zu erzählen, was ihn in der Arbeit bewegt. Gerade Kinder hätten arg daran zu knabbern, wenn man von Todesfällen berichtet. So schätzt Lechner den Gedankenaustausch mit dem Leitenden Oberstaatsanwalt Herbert Pollert. 'Da kann man auch mal alles sagen, wie man es empfindet.' Auch wenn es um Themen wie Mord und Totschlag geht.