Von Peter Schwarz Oberstdorf Die Schuhmacher-Dynastie wurde 1803 vom Erfinder des Haferl-Schuhs, Franz Schratt, begründet. Seitdem vererbt sich das Handwerk vom Vater auf den Sohn. Zwar gibt es längst keine Werkstatt mehr, wo in den besten Zeiten der Meister mit 30 Gesellen und Lehrlingen Schuhwerk für Könige und Generäle, Industrielle und Einheimische fertigte. Aber Franz Schratt jun. ist auch in der sechsten Generation dem Metier treu geblieben. Im 200. Jubiläumsjahr präsentiert sich das Schuhhaus mit dem Stammsitz in der Weststraße, aus dem der größte Schuh der Welt hervorging, als florierender Familienbetrieb mit neun Allgäuer Filialen. Josef Schratt (18861969) als Großvater des heutigen Inhabers ist nicht nur die riesenhafte Fußbekleidung mit der Schuhgröße 480 zu verdanken, die heute das örtliche Heimatmuseum ziert. Sondern durch dessen Sammelleidenschaft von Fotografien, Zeitungsausschnitten, Urkunden, Werbebroschüren, Kundendateien und wahllos hingekritzelten lausbübischen Erlebnissen sind die vielen Jahrzehnte Schrattscher Schusterei dem Dunkel des Vergessenwerdens entrissen worden. Siegeszug durch die Welt Das dem Huf einer Gämse nachempfundene derbe Schuhwerk der Trachtler, welches der im Bergbauerndorf ansässige Franz Schratt zu Napoleons Zeiten in mühseliger Handarbeit nähte, trat einen Siegeszug durch die Welt an. Bis nach Japan eroberte der rustikale Treter als Mode-Trendsetter die Trottoirs. Für die Urform des Haferl-Schuhs bestand indes kein Erstgeburtsrecht. Jeder tüchtige Meister durfte sich mit eigenen Grobgenähten an die Sohlen des Erfinders heften. Es war erst der Enkel, nämlich der sammelwütige Josef, der von dem Erfindungsreichtum seines Ahns profitierte. Als Meister seines Faches auch in der Reklame heimste er bald Auszeichnungen in aller Welt ein und band adelige Kundschaft in halb Europa an sich. Nicht nur Bayerns letzter König, Ludwig III., ließ sich ein in der eigenen Gerberei butterweich getrimmtes Fußleder samt Gamaschen anpassen.
Sondern auch die Königin der Niederlande, die Könige von Württemberg und Sachsen, der Herzog von Kalabrien und Hundertschaften von Großherzögen, Fürsten, Prinzen und Grafen nebst Gemahlinnen promenierten in den Schuhen des Schusters aus dem Bergbauernort. Nicht umsonst wurde Schratt der Titel Schuhmacher der Könige verpasst. Er war aber auch ein König der Schuhmacher, wie seine vielen Goldmedaillen besagen. Es muss die Verarbeitung gewesen sein, welche die Produkte so begehrlich machten. Enkel Franz jun. bewundernd: Es waren perfekte Schuhe mit irrsinnigen Nähten. Eigentlich zog Josef Schratt gleich zweimal den größten Schuh der Welt übern Leisten, zuerst 1930 und dann nochmals 1950. Vor der Premiere hatte das Hausmädchen zunächst die Kreidezeichnung auf dem Werkstatt-Fußboden als Geschmier fein säuberlich aufgewischt. Dies konnte den eifrigen Meister aber nicht hindern. Ebenso wenig ein amerikanischer Botschafts-Attaché, der den Rekord für seine USA reklamieren wollte. Weil nach dem Zweiten Weltkrieg Leder knapp war, zerlegte Schratt sein erstes Titanenstück. Wenige Jahre später schnürte er einen noch gewaltigeren Weltrekord-Schuh. Schon da war das Zeitalter der industriellen Schuhfertigung hereingebrochen, was auch eine Umorientierung bei den fleißigen Schratt-Handwerkern erforderte. Der Vater des jetzigen Inhabers, wieder ein Franz, hatte zwar noch Orthopädie-Schuhmacher gelernt. Aber die zu teuer gewordene Handarbeit mit der Ahle musste dem Handel mit der feinen Lederware weichen. Anita und Franz Schratt jun. sehen heute ihre Aufgabe darin, im Geflecht von Alltagsschuhen, Sport und Mode durch frechen und mutigen Einkauf für den Fortbestand des Unternehmens mit mehr als 50 Mitarbeitern zu sorgen. Zum 200. Geburtstag läuft derzeit ein Jubiläumsverkauf, bei dem der Kundschaft auch tausende Gratis-Billetts für den Aufbewahrungsort des musealen Riesen-Bergstiefels in die Einkaufstüte gelegt werden.