Artikel: Ein Steinway-Flügel für ein Wunderkind

16. Dezember 2002 20:30 Uhr von Allgäuer Zeitung

Yi-Lin Jiang (14) sammelt erste Preise wie andere in seinem Alter Briefmarken - Geburtsort: München, Mozartstraße

Von unserem Redaktionsmitglied Freddy Schissler, Kaufbeuren - Das Christkind legte eine Frühschicht ein, besuchte die Familie Jiang in Kaufbeuren schon vor dem Heiligen Abend, und das Geschenk, das es mitgebracht hat, paßt unter keinen Christbaum. Yi Lin Jiang, 14, ist seit ein paar Tagen stolzer Besitzer eines Steinway-Flügels. 'Ein Traum', freut er sich, 'Klang und Anschlag sind einfach wunderbar'. Ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk, finanziert von Vater Bin-Wei Jiang. Ein Steinway-Flügel für ein Wunderkind. Dieses Wort vom Wunderkind haben sie schon oft gehört im Hause Jiang. 'Kein Problem', sagt der Vater, Klarinettenlehrer an der städtischen Musikschule in Kaufbeuren. 'Kein Problem', bemerkt auch der 14-jährige Yi-Lin, 'natürlich möchte ich mal Musik studieren und Konzerte geben. Ich lasse mich aber dennoch nicht unter Druck setzen'. Yi-Lin Jiang geht also weiterhin in den Klavierunterricht zu Angelika Lutz-Fischer, der Leiterin der Musikschule, und sammelt vermutlich auch künftig die Preise wie andere in seinem Alter Briefmarken. Zuletzt siegte er beim 47. Karl-Lang-Klavier-Wettbewerb seiner Altersgruppe. Bei 'Jugend musiziert' hat er noch nie etwas anderes gewonnen als den ersten Preis. Jedes Jahr, in schöner Regelmäßigkeit, meist mit voller Punktzahl. Mit sechs Jahren saß er zum ersten Mal am Klavier, für ein Wunderkind nicht unbedingt früh. Danach allerdings sei es rasant nach oben gegangen und Bin-Wei Jiang versichert: 'Keiner meiner Schüler hat ähnlich schnell gelernt wie Yi-Lin.' So also sieht ein Wunderkind aus. Nicht unbedingt spektakulär. Eher höflich, freundlich, lebenslustig. Wenn der Vater neben ihm sitzt, schweigt der 14-Jährige lieber und läßt den Papa erzählen. Davon, dass Yi-Lin in der Mozartstraße in München geboren wurde und später zur Großmutter nach Peking kam, weil die Eltern damals in München vor ihren Prüfungen standen. Er erzählt, dass sie den Filius früher als geplant wieder nach Deutschland holten, weil in China die Studenten auf die Straße gingen und die Situation dort nicht ungefährlich war. Und er erinnert sich an einen Bundesentscheid von 'Jugend musiziert' in Hamburg, als er noch am Vormittag mit seinem Sohn das Geburtshaus von Johannes Brahms gesucht und schließlich auch gefunden hat. Später mußte das Talent der Jury ein Brahms-Werk vorspielen - und erreichte die volle Punktzahl. 'Vielleicht hat unsere Spurensuche geholfen', sagt Bin-Wei und lächelt. Was er im Grunde genommen damit sagen will: Yi-Lin rattert nicht gedankenlos die erlernten Stücke herunter. Yi-Lin ist kein Klavier-Roboter, getrimmt allein auf perfekte Technik. 'Die Musik von Chopin, Brahms oder Liszt und Debussy nimmt mich gefangen', sagt der 14-Jährige, 'Bach hingegen finde ich eher langweilig'. Das sei eben im Moment so, schränkt er später ein, sicherlich werde sich diese Einstellung irgendwann einmal ändern. Und so setzt er sich an diesem Nachmittag ans Klavier und beendet das Interview mit Chopins Etüde c-Moll op. 10, Nr. 12 - der Revolutionsetüde.

'Musik muß Gefühle erzeugen' Zu Hause, sagt er, habe er das Stück auf CD, gespielt von Vladimir Askenazy. Diese Scheibe lege er oft in seinen CD-Player und immer wieder entdecke er neue, tolle Einzelheiten und Finessen. 'Die Musik muß Gefühle erzeugen', sagt Yi-Lin. Das sei in erster Linie wichtig für ihn. Musik müsse zudem vieles ausdrücken können. Zum Beispiel bei einem Werk wie 'Herbst in Warschau' von Ligeti. Im Regal in seinem Zimmer, wo auch der Flügel steht, sucht man übrigens vergeblich nach Pop-Musik, Rock oder Jazz. 'Das gefällt mir nicht', erklärt Yi-Lin. Vielleicht interessieren ihn diese Stilrichtungen ja später einmal.