Die «Andorra»-Aufführung aus Osnabrück war ein beeindruckender Höhepunkt der Spielsaison im Kemptener Stadttheater. Das Publikum im gut besetzten Haus bedankte sich mit einem Beifall, der das Gewohnte überbot und sogar die Darsteller sichtlich überraschte.
Max Frischs «Andorra» wurde 1961 in Zürich uraufgeführt. Zum ersten Mal klagte ein Bühnenautor das antisemitische Wüten des Nazi-Regimes schonungslos an. Die Verfolgung und das tragische Ende des vermeintlichen Juden Andri wurde zum Modellfall des millionenfachen Mordens an unschuldigen Menschen, die man alle durch die Brille eines Vorurteils sah. Aber auch Frischs Heimatland, die Schweiz, kam, wenn auch verdeckt, nicht ungeschoren davon. Hinter der biederen Gemütlichkeit der «weißen» Andorraner, die man auch als Schweizer verstehen kann, lauert die Bereitschaft zur Lüge, zum Vorurteil und schließlich zur Tolerierung des Verbrechens.
Ein weniger erfahrener Regisseur könnte versucht sein, der inzwischen schon etwas gealterten Fabel neue Akzente nach Art des «Regietheaters» aufzusetzen. Nicht so Jürgen Bosse vom Theater Osnabrück. Er wollte nicht seine Sonderideen verwirklichen, sondern «nur» Max Frisch spielen - ohne Schnörkel, psychologisch volkstümlich.
Langer Text gekürzt
Allerdings erlaubte sich Bosse die Kürzung des langen Textes. Das zwölfte Bild, die entwürdigende «Judenschau», wurde bis auf ein Minimum reduziert. Die abermalige Demaskierung der «braven Bürger» unterbleibt, nur Andri allein wird der «Judenschau» unterzogen. Ein bisschen mehr wäre empfehlenswert.

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Immerhin: Die breite Palette menschlicher Schwäche wird anschaulich enthüllt. Das Theater Osnabrück hat genügend Personal, jeden Schauspieler mit nur einer Rolle zu betreuen, was dem jeweiligen Charakter sehr zugutekommt. Alle haben ihr besonderes Gesicht: der brutale Soldat (Oliver Meskendahl), der schleimige Wirt (Klaus Fischer), der dicke Tischler (Olaf Weißenberg), sein windiger Geselle (Friedrich Witte), der seelisch zerquälte Pater (Thomas Schneider), der ewig kichernde Jemand (Johannes Bussler), der dumpfe Idiot (Dominik Lindhorst). Intellektuellen Feinschliff bietet Jan Schreiber als aufgeblasener Doktor. Der schuldbeladene Lehrer (Dietmar Nieder), der seinen unehelichen Sohn verleugnet und ihm ein Juden-Schicksal aufzwingt, ist ein verzweifelter Trinker. Feinnervig die Frauenrolle Nicole Averkamp als Mutter und Catrin Flick als Senora.
Eindrucksvoll hat Bosse die Jungen Anjorka Strechel als mutig-emanzipierte Barblin und Steffen Gangloff als Andri in herber Art den Feigen und Duckmäuserischen entgegengestellt.
Erwähnenswert ist auch das sowohl symbolträchtige wie praktische Bühnenbild von Martin Fischer. Abstrakte weiß getünchte andorranische Hausblöcke, verschiebbar je nach Bedarf zur Vergrößerung oder Verkleinerung der Spielfläche.