Sie kann sich noch genau an das Datum erinnern: Es war der 22. November 1952. Gertrud Zasche, ihr Mann und ihre beiden Kinder waren mit dem Zug aus Nürnberg angereist. Sie entschieden sich, den Weg vom Kaufbeurer Bahnhof nach Neugablonz zu Fuß zu gehen. In einem Kinderwagen schoben sie das jüngere ihrer Kinder - es war noch ein Baby - die Steige hinauf. Als sie sich irgendwann während des Aufstiegs umdrehten, hatten sie freie Sicht auf die Allgäuer Berge. Keine Wolke war am Himmel, majestätisch lagen die verschneiten Riesen in der Landschaft: "Ein überwältigender Anblick", erinnert sich die 90-Jährige. Ein gutes Zeichen für einen Neuanfang.
"Als Neugablonz gegründet wurde, haben wir gewusst, dass wir da hingehören", sagt Zasche. Sie war 32 Jahre alt, als sie ins Allgäu zog. Hinter ihr lagen lange Jahre der Flucht und Vertreibung. Vor ihr ein neues Leben, eine neue Heimat. Seither sind beinahe sechs Jahrzehnte vergangen: Zasche sitzt im Neugablonzer Archiv für Vertriebenenliteratur. 1990 hat sie die Leitung der Bibliothek übernommen. Anfangs war der Bestand mit rund 2000 Bänden recht klein. Mittlerweile ist er durch Nachlässe und Schenkungen auf 9000 Bücher und zahlreiche Zeitschriften angewachsen. Das Thema "Vertreibung" sei naturgegeben ihr Bereich, sagt die promovierte Germanistin. Schon lange hat sie ihr Zuhause in Neugablonz gefunden. Aber bis heute hat sie ihr Interesse an der osteuropäischen Kriegsgeschichte nicht verloren.
Während des Krieges studierte die gebürtige Gablonzerin an der Prager Karlsuniversität. Bei dem Goethe-Experten Erich Trunz promovierte sie über den "großdeutschen Gedanken in der Lyrik des 19. Jahrhunderts". "Deutschland war für uns das Paradies", sagt sie. "Wir lebten in der Tschechoslowakei, aber wir wollten Deutsche sein."
Tschechen und Sudetendeutsche standen sich kurz vor Kriegsausbruch meist feindlich gegenüber: Die Minderheit fühlte sich in einen Staat gezwängt, mit dem sie sich nicht identifizieren konnte. Und die Mehrheit kämpfte gegen die Abspaltungsbestrebungen der Deutschstämmigen. "In diesen Spannungen bin ich aufgewachsen", sagt Zasche. Menschlich seien die Leute miteinander ausgekommen. Aber politisch hätten sie sich nicht vertragen.
Flucht nach Westböhmen
Als 1945 die russische Front immer näher rückte, floh Zasche nach Westböhmen. Sie hatte damals bereits ihr erstes Kind. Bald schon wurde es allerdings auch dort zu unsicher. Sie überquerte die Grenze nach Deutschland und schlug sich weiter per Anhalter durch: "Unheimlich viele Amerikaner fuhren durch die Gegend", erinnert sie sich. In ihren Militärlastern nahmen die US-Soldaten Flüchtlinge mit, die meist ziellos durchs Land streiften. Zufällig gelangte Zasche nach Nürnberg. Sieben Jahre später zog es die Familie dann noch weiter in den Süden: Dahin, wo sich die früheren Freunde und Verwandten aus Jablonec aus den Trümmern einer ehemaligen Waffenfabrik eine neue Heimat gezimmert hatten. Ob sie anfangs Probleme mit den alteingesessenen Kaufbeurern gehabt habe? - "Ich bin hier immer auf Freundlichkeit gestoßen", antwortet Zasche.
Doch vielleicht seien die Schwierigkeiten schon abgebaut gewesen, als sie 1952 in die Stadt kam.
In Neugablonz traf sie auf eine geschlossene Gemeinschaft, eine sudetendeutsche Kolonie mitten im Allgäuer Voralpenland. "Wir haben uns bemüht, uns im Kulturleben zu engagieren", erzählt sie. Zusammen mit ihrem Mann schloss sie sich dem Haus Kleinert für Mundartpflege an: "Ich habe hier erst richtig Mundartsprechen gelernt." Bald begann Zasche, auch im Gablonzer Dialekt zu dichten. Eine Leidenschaft, die bis heute angehalten hat: Erst kürzlich erschien ihr neuester Gedichtband unter dem Titel "Ich sang so viel".
Gertrud Zasche feiert am heutigen Donnerstag ihren 90. Geburtstag. Ihre Tochter schrieb einmal in der Zeitung "Heimat Allgäu": "Für meine Mutter stand immer die Familie an erster Stelle." Zasche sieht es ähnlich: "Am meisten bin ich auf meine Familie stolz."
Gertrud Zasche ist seit 1990 Leiterin des Neugablonzer Archivs für Vertriebenenliteratur. Foto: Wild