Von Manfred Heerdegen Neugablonz - Von Gablonz an der Neiße nach Neugablonz im Allgäu: Die nordböhmische Schmuckstadt lebt in der größten geschlossenen Ansiedlung von Heimatvertriebenen auf deutschem Boden weiter. Der Kaufbeurer Stadtteil ist ein Sonderfall unter den so genannten 'Flüchtlingsstädten', die auch in Bayern zu finden sind. Aber warum gibt es heute zwar ein Neugablonz, doch kein Neu-Reichenberg oder Neu-Karlsbad? Die Antwort auf diese Frage führt sechzig Jahre zurück, in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Mai 1945: Das nationalsozialistische deutsche Reich ist vollständig besiegt und kapituliert bedingungslos. Zu den Kriegsfolgelasten, die dem besetzten und geteilten Land von den alliierten Siegermächten auferlegt werden, zählen auch mehr als zwölf Millionen Heimatvertriebene. Bis Ende 1946 muss allein Bayern eine Million Sudetendeutsche aus der Tschechoslowakei aufnehmen. Wegen der Kriegszerstörungen in den städtischen Ballungsräumen werden die meisten Neubürger in beschlagnahmte Unterkünfte auf dem Land eingewiesen - nicht unbedingt zur Freude der einheimischen Bevölkerung. Bereits im Sommer 1945 finden sich in den Akten des bayerischen Wirtschaftsministeriums Eingaben von Fachleuten, die auf das volkswirtschaftliche Potenzial der Sudetendeutschen hinweisen. Ende Dezember 1945 richtet die in München wirkende 'Sudetendeutsche Hilfsstelle' eine Denkschrift an den neuen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard. Das umfangreiche Papier enthält Vorschläge für eine geordnete und geschlossene Ansiedlung bestimmter sudetendeutscher Gewerbezweige, darunter der Gablonzer Industrie, in Bayern. Die Verteilung und Unterbringung der Heimatvertriebenen obliegt aber der staatlichen Flüchtlingsverwaltung, die politische Vorgaben der amerikanischen Besatzungsmacht berücksichtigen muss. Die US-Militärregierung und die Tschechoslowakei streben eine 'reibungslose Zerstreuung' der vertriebenen Sudetendeutschen an. In der ausschlaggebenden Richtlinie der Besatzungsmacht zur Flüchtlingspolitik heißt es: 'Um zu verhindern, dass sich in der amerikanischen Zone Minderheitenzellen entwickeln, müssen die Ausgewiesenen aus der gleichen auswärtigen Herkunftsgemeinde auf verschiedene deutsche Aufnahmegemeinden verteilt und dort wieder angesiedelt werden.' Geschlossene Ansiedlungen von Sudetendeutschen sind also politisch nicht erwünscht. Auch im Fall der deutschen Einwohner des Kreises Gablonz werden die gewachsenen Ortsgemeinschaften bei der Vertreibung planmäßig auseinander gerissen und über ganz Deutschland zerstreut. Das bayerische Wirtschaftsministerium wird Ende März 1946 informiert, dass die US-Militärregierung eine geschlossene Ansiedlung von Gablonzern ablehnt. Im Hintergrund wirkt die Tschechoslowakei, die aus Konkurrenzgründen keinen Neuaufbau der Gablonzer Industrie in Deutschland zulassen will.
Keine eigenen Verbände Die amerikanische Besatzungsmacht verfolgt während der ersten Nachkriegsjahre das erklärte Ziel der Assimilierung aller Heimatvertriebenen. Die 'Neubürger' sollen unter Auflösung ihrer bisherigen landsmannschaftlichen Bindungen vollständig in der einheimischen Bevölkerung aufgehen. Die Heimatvertriebenen dürfen deshalb auch keine eigenen Parteien oder Verbände gründen. Sogar die 'Sudetendeutsche Hilfsstelle' muss im Frühjahr 1946 ihre Auflösung hinnehmen. Der Wirtschaftsfachmann Dr. Fritz Enz, Verfasser der Denkschrift vom Dezember 1945, schließt sich wenig später der Gablonzer Aufbaugruppe um Diplom-Ingenieur Erich Huschka an. Der von den Amerikanern ausgeübte Assimilierungsdruck nimmt erst mit Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 spürbar ab. Zwar entstehen in Bayern noch vier weitere 'Flüchtlingsstädte': Waldkraiburg, Neutraubling, Traunreut und Geretsried. Doch nur den vertriebenen Gablonzern um Erich Huschka gelingt trotz gegenteiliger besatzungspolitischer Vorgaben der Aufbau einer Ansiedlung, die das historische Erbe und die Industrie der alten Heimat weiterführt.