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Als Flüchtling gescheitert, als Manager Karriere gemacht

Kempten/Halle

Als Flüchtling gescheitert, als Manager Karriere gemacht

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    Als Flüchtling gescheitert, als Manager Karriere gemacht
    Als Flüchtling gescheitert, als Manager Karriere gemacht Foto: AZ

    Der friedliche Bürgerprotest, der sich 1989 an vielen Orten der Deutschen Demokratischen Republik entwickelte, zählt zu den großen Ereignissen der jüngeren deutschen Geschichte. Entscheidend war Montag, der 9. Oktober 1989 in Leipzig. Hier hatten die DDR-Oberen eine gewaltsame 'Lösung' vorbereitet. Doch als sich 70000 Menschen unter dem Motto 'Wir sind das Volk' versammelten, traute sich niemand, gegen die Demonstranten vorzugehen, die russischen Panzer blieben in den Kasernen. Die friedliche Revolution gipfelte im Mauerfall am 9. November 1989. Klaus-Michael Kurz, Chef von Galeria Kaufhof in Kempten, erlebte diese Zeit im Staatsgefängnis 'Frohe Zukunft' Halle/Saale. Der junge Diplomsportlehrer hatte ein Jahr zuvor versucht, über Ungarn in den Westen zu fliehen. Mit Kopfschütteln quittiert heute Kurz die Überwachungsprotokolle des DDR-Staatssicherheitsdienstes. 'Ich habe meine Akte 1993 gelesen und war enttäuscht, wie wenig die wussten.' Holzfäller im Thüringer Wald Nach dem Abitur in seiner Geburtsstadt Gerstungen (Thüringen) wollte er an der Hochschule für Körperkultur in Leipzig studieren. Doch er war mit einem Studienverbot belegt. Das war die Quittung dafür, dass er mit 16 kein NVA-Offizier werden wollte. Kurz landete in der sozialistischen Produktion und ging nach einer Ausbildung als Instandhaltungsmechaniker für Chemieanlagen für drei Jahre als Holzfäller in den Thüringer Wald. Bei der NVA war er als Kranfahrer in Laage bei Rostock eingesetzt. Studium trotz Stasi-Widerstands 1984 wagte er einen neuen Versuch und gab seine Bewerbungsunterlagen in Leipzig selbst ab. Der Zufall wollte es, dass seine Akte auf dem richtigen Stapel landete. Die Studienzusage passte der Stasi nicht und es entwickelte sich ein heftiger Schriftwechsel, doch da studierte der damals 24-jährige passionierte Leichtathlet und Fußballer bereits in Leipzig. 'Das war eine richtige Weltstadt mit Flair. Da tobte das Leben', schwärmt der zweifache Familienvater noch heute. 'Wir waren einige der wenigen Hausbesetzer in der DDR', erzählt er. Die 80er Jahren seien eine sehr intensive Zeit gewesen: 'Immer an der Leitplanke entlang'. Zusammen mit seinen Studienfreunden habe er die Freiheit des Ostens optimal ausgenutzt. Dazu gehörten auch Reisen. 'Wir haben uns mit dem Rucksack an die Straße gestellt und sind ans Schwarze Meer oder in die Südkarpaten gereist.' Bereits in den ersten Wochen seines Sportstudiums reifte der Entschluss: 'Nach dem Abschluss hauen wir ab.' Im Juli 1988 war es dann soweit: 'In einem besetzten Haus machten wir eine Riesen-Abschlussfete mit Punkband und Bluesband. Die ganze Feier war durchdrungen von Stasileuten.' Zu Hause gab es einen Abschied ohne Worte von Opa, Eltern und Geschwistern. Kurz reiste mit seinem Kumpel Holger nach Ungarn. Im Gepäck hatten sie zwei Rucksäcke: Einen mit Ostsachen und einen mit Westkleidung und Westgeld: 'Wir haben nachts auf Feldern geschlafen und den Neumond abgewartet. In der Nähe der Kemptener Partnerstadt Sopron haben sie ihre Räder und alles, was zum Osten gehörte, vergraben. In dunkler Kleidung huschten sie zum Neusiedler See, kämpften sich durch 3,5 Meter hohes Schilf. 'Wir sind bis zum Gürtel eingesunken.' Am Ende verloren sie den Mut, gingen zurück und wurden gestellt. Schüsse hallten durch die Nacht, Signalraketen erhellten die Szenerie. Die Suchmannschaft kam mit entsicherten Waffen auf sie zu. Als der Grenzsoldat mit einer Kalaschnikow im Anschlag auf Kurz traf, zeigte der keine Angst: 'Ich war der ruhigste Mensch auf Erden.' Die weiteren Stationen: Verhöre bei der Grenzkompanie in Szeged und Untersuchungshaft in Budapest. Kurz musste seinen Fluchtweg zeigen und erkannte bei Tageslicht, wie nah er dem rettenden Ufer auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs gewesen war. Die Einzelhaft prägte ihn. Er zog sich in seine Erinnerungen zurück. Aus Fasern bastelte er sich ein Schachspiel, das die Wachen entdeckten und konfiszierten. Von September bis Januar 1989 saß er in U-Haft beim Ministerium für Staatssicherheit, dann folgten Gerichtsverhandlung und Verurteilung. In der Haft traf er seine beiden Kumpels Holger und Jens wieder. Letzerer war mit einem falschen Pass verhaftet worden. Im Ostradio hörten sie von den Vorgängen in der Prager Botschaft und entschlossen sich zum Hungerstreik. Zwei Tage vor dem 40. DDR-Geburtstag am 7. Oktober verweigerten rund 400 Häftlinge das Essen. Und das wiederholte sich mittags und abends. Die Aktion hatte Erfolg, Ende Oktober folgte eine Amnestie für politische Gefangene. Doch Kurz und seine Freunde kamen noch nicht frei. Am Samstag, 10. November schlugen sie mit Blechgeschirr Krach und skandierten: 'Wir wollen raus.' Einen Tag später öffneten sich endlich die Tore. In Kempten fühlt er sich wohl Als Manager legte er später eine beachtliche Karriere im gesamtdeutschen Handel hin und könnte heute in einem schicken Büro in Frankfurt oder Berlin sitzen. Doch seine Frau und seine beiden kleinen Töchter wollten unbedingt in Bayern leben. In Kempten fühlt sich der Kaufhof- Manager nun sichtlich wohl und nimmt an der Entwicklung der Stadt regen Anteil. Den Kontakt zu seinen Studienfreunden hält Klaus-Michael Kurz bis heute: 'Wir treffen uns jedes Jahr an einem Wochenende im Mai oder fahren gemeinsam in den Urlaub.'

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