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Mythos Lotti: Die Schnappschildkröte aus dem Weiher in Irsee im wissenschaftlichen Fokus

Interview

Mythos Lotti: Die Schnappschildkröte aus dem Weiher in Irsee im wissenschaftlichen Fokus

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    Mythos Lotti: Die Schnappschildkröte aus dem Weiher in Irsee im wissenschaftlichen Fokus
    Mythos Lotti: Die Schnappschildkröte aus dem Weiher in Irsee im wissenschaftlichen Fokus Foto: rw/sv kno (dpa)

    Ein Bub verletzt sich beim Baden. Der Biss einer Schnappschildkröte? Statt einer Antwort gibt es einen ungeheuren Medienrummel. Man zählt das Jahr zwei nach dem Auftauchen des berühmten Sommerloch-Tiers am Oggenrieder Weiher in Irsee. Was war, was bleibt? Eine Einordnung von Markwart Herzog

    Was Lotti wohl gerade macht? Hat sie sich im Schlamm eines Weihers vergraben? Huscht sie durch hohes Gras am Ufer? Ist sie tot oder ausgewandert? Und natürlich muss man längst fragen, ob es sie überhaupt gab. Vor zwei Jahren berichtete die Allgäuer Zeitung erstmals über Lotti, nachdem ein Bub im Oggenrieder Weiher bei Irsee (Ostallgäu) am Bein verletzt worden war.

    Als Ursache der Wunde hielten Wissenschaftler den Biss einer Alligatorschildkröte für möglich. Ein Tier, das möglicherweise ausgesetzt worden sei. Lotti war geboren. Der Rest ist Geschichte. Die ernsten, heiteren und absurden Facetten bei der Suche wurden von Medien rund um die Welt ausführlich dokumentiert.

    Es gab und gibt Andenken, ein Lotti-Spiel der Allgäuer Zeitung, Gebäck, ein Lied, eine Facebook-Gruppe und sogar ein Dirndl zu Ehren des exotischen Geschöpfes. Nun ist es Zeit, dieses Thema aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. AZ-Redakteur Alexander Vucko sprach mit dem Kulturwissenschaftler Markwart Herzog darüber.

    "Ein Loch ist da, wo etwas nicht ist", hat Kurt Tucholsky alias Kaspar Hauser einmal publiziert. Anders beim Sommerloch, in dem die Journalisten immer etwas finden. Wäre es nicht treffender, von der Sauregurkenzeit zu sprechen?

    Herzog: Im Lotti-Thema steckt aber sehr viel mehr drin, als die Sauregurkenzeit 2013. Es ist erstaunlich, dass die Leute im Allgäu weit über 2013 hinaus noch immer nach Lotti fragen. Auch sie und viele andere Vertreter der Medien beschäftigt die Verletzung des acht Jahre alten Jungen aus Bonn nach wie vor. An zwei Stellen wurde bekanntlich die Achillessehne durchtrennt.

    Die Medien beleuchten Flüchtlingsdramen ebenso wie das Dschungelcamp. Hilft uns ein Sommerloch-Thema nicht auch dabei, die Deutungshoheit wiederzuerlangen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden?

    Herzog: Lassen Sie uns doch einmal ganz unbefangen fragen: Worin liegen die Gründe für das nach wie vor ungebrochene Faszinationspotenzial und die lange und vielfältige Wirkungsgeschichte, die weit über den aktuellen Moment dieses Geschehens hinaus reicht? Wäre der Junge im August 2013 von einem Hund gebissen und vielleicht noch schlimmer verletzt worden, keiner würde heute noch danach fragen. Aber Lotti ist nach wie vor aktuell. Wir haben das in diesem Jahr auch beim Schwäbischen Kunstsommer wieder erfahren dürfen.

    Die erste Meldung über Lottis mutmaßliche Existenz erreichte Sie während des Schwäbischen Kunstsommers 2013 in Irsee, den Sie leiten. Was haben Sie im ersten Augenblick gedacht?

    Herzog: Ich dachte spontan an die Teilnehmer, daran, dass der See gesperrt ist und die Leute nicht mehr schwimmen gehen können. Aber man hat sich damit abgefunden und das Beste daraus gemacht - nämlich Kunst: Bekanntlich hat der Sprayer Loomit mit seiner Graffiti-Klasse während des Kunstsommers 2013 Lotti auf einer Mauer in Irsee verewigt.

    Merkels Urlaubsort, das Wetter oder die Oktoberfestvorbereitumgen - Themen für das tiefste Sommerloch. Was ist anders an Lotti?

    Herzog: Wir können das Phänomen nur verstehen, wenn wir nach dem kulturellen Resonanzraum fragen, in den sich diese Geschichte eingeschrieben hat. Wenn wir Geschichten hören, interpretieren wir sie automatisch und bewerten sie hinsichtlich ihrer kulturellen Bedeutung. Dabei schwingen narrative Elemente und bildhafte Vorstellungen mit, die in der Kultur- und Religionsgeschichte tief verwurzelt sind, ohne dass wir uns dessen bewusst sein müssen. So enthält die Geschichte von Lotti und dem gebissenen Jungen beispielsweise Elemente eines Opfermythos, eines Mysteriums und der Magie.

    Es gibt also eine nachvollziehbare Erklärung für das Phänomen?

    Herzog: Ja, in der Tat. Ein verletzlicher, netter, kleiner Junge aus Bonn wird nicht von irgendeinem Tier gebissen, sondern von einer Schnappschildkröte, von einem Monster mit Panzer und abstoßend hässlicher Fratze, die etwa von der "Bild"-Zeitung und auf Internetportalen in großen Fotos gezeigt wurde. Damit konnte sich die Geschichte bildmächtig in unserer Erinnerung einnisten. Diese Erzählung ist in Schwarz und Weiß gezeichnet, Gut und Böse stehen sich hier kompromisslos gegenüber.

    Die in der Story beschworene Gefahr wird noch dadurch gesteigert, dass der Junge im Wasser verletzt wurde, also in einem Medium, in dem wir Menschen ohnmächtiger sind als an Land, wo wir zumindest versuchen könnten, davon zu laufen und der Gefahr zu entrinnen.

    Das geht uns emotional nahe, wir identifizieren uns mit dem verletzlichen, verwundeten, ohnmächtigen Jungen. Der Junge wurde operiert, er wurde glücklicherweise geheilt und gesund. Aber die Geschichte ist damit noch nicht abgeschlossen, sie ist noch nicht zu Ende, weil eben ein Restzweifel darüber bestehen bleibt, was wirklich geschehen ist. Dass eine Schnapp- oder Monsterschildkröte dahinter steckt, ist letztlich eine Hypothese, für die der ultimative empirische Beweis nach wie vor fehlt.

    Welchen Anteil hat der lustige Name Lotti an dem Mythos?

    Herzog: Nicht zuletzt enthält der Name, den die Bevölkerung dem Wesen gegeben hat, etwas Magisches. "Lotti" ist die Verkleinerungsform von "Lotte" oder "Charlotte". Schon "Lotte" klingt harmlos, die Diminutivform "Lotti" macht das Monster noch kleiner. Das Wesen wird also verniedlicht, die von ihm ausgehende Gefahr wird gleichsam kleingeredet, sie wird damit gebannt. Der Name steht in einer Spannung zum Wesen des Monsters. Dieselbe Verniedlichung finden Sie bei dem ebenfalls den Menschen unzugänglichen Ungeheuer von Loch Ness: "Nessie", auch dieser Name passt nicht zu dem Schrecken, der dem Ungeheuer in der Volksmythologie anhaftet.

    Was meinen Sie: Gab oder gibt es Lotti überhaupt? Oder war alles nur eine Projektionsfläche für unsere Urängste und Hilflosigkeit?

    Herzog: Das ist eine wirklich sehr gute Frage: Die Geschichte enthält nämlich ein Mysterium, angesiedelt zwischen Realität und Fantasie. Die Doppelwunde an der Achillesferse des Jungen kann nicht bestritten werden. Aber den Urheber hat bis heute niemand gesehen, er ist unzugänglich. Alle Mächte vor Ort wurden mobilisiert, um das Monster zu finden: Polizei, Technisches Hilfswerk, die Feuerwehr und so weiter. Der Bürgermeister hat seinen Urlaub verschoben, der Lauf des Alltags war für einige Zeit unterbrochen.

    Aber das unheimliche Wesen hat sich allen Versuchen eines Zugriffs entzogen, es blieb unsichtbar. Hätte man es gefunden, keiner würde heute noch danach fragen. Man könnte einen Haken hinter die Geschichte setzen, wenn man das Geheimnis gelüftet hätte. Dieses Mysterium hat deshalb ein narratives Potenzial, das sich in den verschiedensten, teils auch humoristischen Mutmaßungen artikuliert hat.

    Auch Sie haben sich vor zwei Jahren mit der Suche nach Lotti auseinandergesetzt, haben sogar ihr Grab bei Paris verortet. Ein bitterböser Schabernack auf Kosten der Irseer?

    Herzog: Okay, das gehört zu den humoristischen Verarbeitungen der Thematik. Im historischen Tierfriedhof in Asnières-sur-Seine, im Norden von Paris, habe ich tatsächlich ein Tiergrab gefunden, das die Aufschrift "À Lotti" trägt.

    Aber man kann die Sache auch ganz anders sehen, denn das im Begriff der Schnappschildkröte mitschwingende Bild des Schnappens lässt sich mit Schreckensmomenten assoziieren, die alles andere als humoristisch sind. Die personifizierte Unterwelt, das Höllenmonster oder der Teufel schnappen mit ihrem Maul nach ihren Opfern, den Seelen der Verstorbenen. Das können Sie sehr schön auch auf Weltgerichtsdarstellungen des Mittelalters sehen.

    Ist Ihnen aufgefallen, dass es heuer noch kein exotisches Tier in einen bundesdeutschen Tümpel und damit in die Medien geschafft hat?

    Herzog: Das ist so nicht ganz richtig. Denn am 13. August war in der Allgäuer Zeitung zu lesen, dass ein achtjähriges Mädchen im oberpfälzischen Pressath in einem Badesee von einem großen Hecht in den Arm gebissen wurde. Doch fehlt dieser Geschichte das Geheimnisvolle. Deshalb war sie Ihrer Tageszeitung eben nur eine kleine Notiz wert, die sogar Ihnen entgangen zu sein scheint.

    Vermissen Sie Lotti?

    Herzog: Na ja, richtig vermissen kann ich das Wesen nicht. Denn es hat sich bisher keinem wie eine Realität unserer raum-zeitlichen Wirklichkeit jemals gezeigt. Dennoch leben wir in der Schwabenakademie mit Lotti, weil wir immer wieder darauf angesprochen werden. Lotti ist eine Medien-Realität.

    Wäre es besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen?

    Herzog: Ob uns das gefällt oder nicht, der Geschichte liegt ein reales Geschehen zugrunde, das die Medien dramatisiert haben. Diese Geschichte hat zwar ein Happy End, aber eben kein vollständiges und abschließendes: Der Junge ist zwar wieder genesen, aber die Ursache der Doppelwunde wurde nicht zweifelsfrei identifiziert und konnte deshalb auch nicht beseitigt werden.

    Hat die Lotti-Mania Irsee und den Irseern in der öffentlichen Wahrnehmung mehr genutzt oder geschadet?

    Herzog: Die Geschichte hat Irsee auf jeden Fall noch bekannter gemacht, als es der Ort ohnehin schon ist, und in die Schlagzeilen gebracht. Das ist nicht unwichtig für einen Ort, der auch vom Tourismus lebt. Wir dürfen also gespannt sein, ob sich das Irseer Seeungeheuer Lotti im Lauf der Zeit zu einer ebenso lukrativen Einnahmequelle des Allgäu-Marketings entwickeln wird wie Nessie im schottischen Tourismus.

    Die Ansätze dazu sind zweifellos vorhanden, aber die Schildkröte Lotti ist dem einem Saurier ähnlichen schottischen Monster schon phänotypisch nicht ebenbürtig, sodass sich Lottis Potenzial mittelfristig irgendwann einmal aufgebraucht haben dürfte. Medien wie "Bild" haben durch geschickte Fotopräsentation den Schrecken der Schildkröte stilisiert und überhöht. Der Kopf des Wesens wirkt in der Nahaufnahme auf uns tatsächlich abstoßend.

    Was bleibt, zwei Jahre nach dem größten Medienrummel in Irsee?

    Herzog: Diese Medialisierung des Schreckens und das unaufgelöst Mysteriöse, das die Geschichte enthält, beide Faktoren haben dazu geführt, dass sich der Diskurs über das Thema verstetigt hat. Eine ortsansässige Bäckerei hat medienwirksamen Profit daraus gezogen, indem sie noch zwei Jahre nach dem Vorfall "fangfrische Schnappschildkröten" aus Brezelteig verkauft.

    Was der Geschichte über die genannten inhaltlichen Momente - Dramatik, Schrecken, Mysterium - hinaus dazu verholfen hat, dass sie sich so nachhaltig im Gedächtnis der Leute eingravieren konnte, ist auf alle Fälle ihre Medialisierung, ihre Kommerzialisierung und moderates Merchandising. Weltweit haben Zeitungen, Journale, Fernsehen, Internet und Hörfunk darüber berichtet.

    Ich glaube schon, dass die Irseer das auch mit etwas Stolz verfolgt haben. Auch die Schwabenakademie hat in ihrem Kunstsommer-Newsletter über die Brezelteigschildkröten der ortsansässigen Bäckerei berichtet, und nicht zuletzt Kunstsommer-Teilnehmer auf Facebook. Jochen Heckmann, der Meister der Klasse Zeitgenössischer Tanz, hat den von der Bäckerei hergestellten Prototyp einer aus süßem Hefeteig gebackenen Lotti über Facebook bekannt gemacht. Leider ist dieses Merchandising-Produkt nie in die Serienfertigung gegangen. Aber was noch nicht ist, kann ja noch werden.

    Was können wir von Lotti lernen?

    Herzog: Wir können lernen, wie mit Unterstützung der Medien ein Mythos entsteht. Insofern haben Sie recht, wenn Sie permanent auf dem Sommerloch herumreiten. Die Ingredienzien für einen Mythos sind jedenfalls vorhanden: Dramatik und Schrecken, der Antagonismus von Gut und Böse, das Mysteriöse, Medialisierung, Kommerzialisierung und nachhaltiges Publikumsinteresse.

    Ihr ganz persönliches Sommerloch-Thema 2015?

    Herzog: Mein ganz persönliches Sommerloch-Thema? Der Feueralarm während des diesjährigen Schwäbischen Kunstsommers. Er wurde in dem Zimmer einer Teilnehmerin ausgelöst. Ursache war ein beißender Geruch, der von verbranntem Plastik herrühren konnte. Aber weder die Ermittlungen der Polizei, noch die Feuerwehr mit Wärmebildkamera oder die Haustechnik konnten die Ursache identifizieren.

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