Am heutigen Freitag wurde das Urteil im Prozess gegen den ehemaligen Leiter des Maristeninternats in Mindelheim verkündet. Die Strafe lautet ein Jahr und 8 Monate Haft. Weil ein Gutachten Zweifel an der Aussage des Opfer geweckt hatte, wurde der Internatsleiter vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
Sachverständige trägt Gutachten vor
Die Sachverständige ist Rechtspsychologin. Anfang 2019 war sie mit dem Gutachten des Opfers beauftragt worden. Sie hatte die Anschuldigungen des Mannes auf ihre Glaubwürdigkeit überprüft. Von zentraler Bedeutung war dabei, ob die Aussagen des Opfers auf tatsächliche Gegebenheiten basieren oder aufgrund seiner psychischen Verfassung und des Umfelds verfälscht werden könnten.
Stimmen die Erinnerungen des Opfers?
Bei ihrer Aussage schloss die Sachverständige die Möglichkeit nicht aus, dass das Opfer sich falsch erinnern könnte. Dabei ging sie auf die lange Zeitspanne ein, die zwischen der Tat und der "Wiederentdeckung" der traumatischen Erinnerungen liegen würde. Das Opfer sagte aus, dass die Erinnerungen an den Missbrauch nach 15 Jahren schlagartig "wie ein Vulkan" wieder "herausgeschossen" seien. Wegen der langen Zeit bestehe laut der Gutachterin die Möglichkeit, dass es sich um sogenannte "Scheinerinnerungen" handeln könnte.
Bipolare affektive Störung beim Opfer
Auch das Umfeld könne der Sachverständigen zufolge für die falschen Erinnerungen verantwortlich sein. Zum Tatzeitpunkt im Jahr 2004 herrschten im Internat bereits Gerüchte über die sexuellen Übergriffe des Fraters. Auch im Familienkreis waren die Übergriffe und die Verhandlung immer wieder Thema. Weil bei dem Opfer zudem eine bipolare affektiven Störung festgestellt wurde, bei der die Betroffenen unter Stimmungsschwankungen leiden, kann die psychische Verfassung zu dem Zeitpunkt falsche Erinnerungen festigen. Was den Inhalt der Aussage betrifft, gab es jedoch keine Hinweise auf Scheinerinnerungen. Das Opfer war bei seiner Aussage allerdings sehr zurückhaltend. Vor allem zum Tatablauf machte der ehemalige Schüler des Angeklagten nur wenige Angaben. Der Aussageinhalt könnte auch auf nachträgliche Vorstellungen hindeuten. Dafür nannte die Sachverständige drei Beispiele aus der Aussage des Mannes. So hat das Opfer behauptet, aus Scham so lange geschwiegen zu haben. Das widerspreche der Angabe, die Erinnerung plötzlich wieder entdeckt zu haben. Die Sachverständige könne die Möglichkeit nicht ausschließen, dass die Aussagen des Opfers auf Scheinerinnerungen basieren. Das bedeute nicht, dass das Opfer lügen würde, betonte sie wiederholt in ihrer Aussage. Die Erinnerungen seien lediglich durch seine psychische Verfassung und Autosuggestion verfälscht worden. Vorstellung und Erinnerung hätten sich im Laufe der Zeit vermischt.
Die psychische Verfassung des Opfers
Als nächstes sagt der Kinder- und Jugendpsychiater aus, der das Opfer betreut hatte. Er lernte den Mann 1999 kennen. Er war wegen einer Aufmerksamkeitsstörung (ADHS) in Behandlung. Das Opfer stand unter einem sehr hohen emotionalen Druck, weil er seiner Familie "gerecht werden" wolle. Im weiteren Verlauf der Behandlung wurde ADHS ausgeschlossen, vielmehr sei eine emotionale Störung festgestellt worden. Schon damals hatte der Sachverständige das Gefühl, dass bei dem Schüler "da etwas brodelte". 2004 begegnete er dem Opfer in einer, seiner Aussage nach, sehr schlimmen psychischen Verfassung wieder. Bei ihm wurde später eine Psychose festgestellt. In dieser Zeit berichtete der Internatsschüler zum ersten Mal über die sexuellen Übergriffe des Fraters. Damals wollte der Psychiater diese Aussagen nicht hören, um die Psychose nicht zu verstärken. Obwohl striktes Besuchsverbot galt, durfte der Internatsleiter das Opfer in der kirchlich geführten Psychiatrie besuchen. Er hob hervor, dass das Gutachten der Sachverständigen nicht auf klinischer Psychologie beruhe. Er dagegen habe praktische Erfahrung mit der Behandlung von Patienten und habe daher ein anderes Verständnis für die Situation des Opfers. Eine Suggestion von außen schloss er aus und kritisierte das Gutachten. Daraufhin wurde auf die Aussage der Psychologin verwiesen, die verdeutlicht hatte, dass Forensische und klinische Psychologie nicht vermischt werden könnten.
Gutachten wird angezweifelt
Nach einer Pause wurden nach einer Klärung der Vermögens- und Wohnverhältnisse des Angeklagten, der vom Geld seiner Eltern lebt und in einer Wohnung wohnt, die Schlussplädoyers verlesen. Die Staatsanwältin hob dabei hervor, dass die Sachverständige die Erinnerungen historisch korrekt bewertet. Eine Suggestion halte sie für unwahrscheinlich, weil im Maristenkolleg nicht ausführlich über den Missbrauch gesprochen wurde. Die Aussagen des Opfers passen der Staatsanwaltschaft zufolge ins Bild und decken sich mit Schilderungen von anderen Zeugen und Opfern. Sie ging auch auf das "Beute-Schema" des Angeklagten ein. Dieser habe sich bevorzugt mehr labile und unsicherere Opfer gesucht, was auf den 38-Jährigen zutreffe. Dass sich das Opfer etwas ausgedacht habe, hält die Staatsanwältin für unwahrscheinlich. Dazu waren die Schilderungen zu detailliert. Das Gutachten solle "mit Vorsicht" genossen werden, da die Sachverständige nicht feststellen kann, ob die Tat stattgefunden hat oder nicht.
Staatsanwaltschaft fordert drei Jahre Haft
Dass der Angeklagte zwei Taten gestand und sich bei zwei Opfern entschuldigt habe, wurde zu seinen Gunsten ausgelegt. Dennoch sah es die Staatsanwaltschaft als erwiesen an, dass in mindestens 18 Fällen sexueller Missbrauch und auch die Vergewaltigung stattgefunden habe. Die Staatsanwaltschaft forderte deswegen eine Freiheitsstrafe von drei Jahren.
Belastung der Opfer enorm
Der Nebenkläger, der eines der Opfer vertritt, hob nochmal die Belastung der Tat für die Opfer hervor. Auch die Aussage vor Gericht habe seinen Mandanten schwer mitgenommen. Auch er rechnete ihm das Geständnis und die Entschuldigung an. Allerdings würde er keine echte Reue bei dem Angeklagten und den Kirchenvertretern feststellen. Er schloss sich dem Strafmaß der Staatsanwaltschaft an.
"Perfides System"
Der Anwalt des Vergewaltigungsopfers ließ hingegen kein gutes Haar an dem Angeklagten und schilderte nochmal die einzelnen Taten auf Basis der Zeugenaussagen. Auch er ging auf die Belastung der Opfer und der Familien ein, die erst im Gerichtssaal von dem Ausmaß der Taten erfahren hatten. Auf den Kindern liege eine "unglaubliche Last". Der Angeklagte habe seine Macht ausgenutzt und konnte das Vergewaltigungsopfer sogar in der Psychiatrie besuchen, was eigentlich nicht möglich sein sollte. Er habe zudem ein "perfides System" erschaffen, dass es ihm ermöglichte Kinder sexuell zu missbrauchen. Er betonte auch die Unehrlichkeit des Beschuldigten. Außerdem rief der Anwalt in Erinnerung, dass der Frater in der Vergangenheit bereits zweimal verurteilt wurde. Es sei "undenkbar", dass sein Mandant die Anschuldigungen erfunden habe. Den Angeklagten ließ das Plädoyer des Nebenklägers nicht kalt. Immer wieder schüttelte er den Kopf und wirkte bedrückt. "Missbrauch tötet die Seele", mit diesen Worten der Mutter eines Opfers schloss der Kläger sein Plädoyer. Weil er es als erwiesen sah, dass der Angeklagte ein Serientäter sei, verlangte er eine Haftstrafe von 6 Jahren.
Verteidigung lehnt Vorwürfe ab
Der Verteidiger eröffnete sein Plädoyer mit einer klaren Ansage: Sein Mandant habe seinen ehemaligen Schüler nicht sexuell missbraucht. Er wies auch die Bezeichnung "Serientäter" zurück. Die Ausführungen der Gutachterin sei nicht zu widerlegen. Weil zwei Taten schon sehr lange zurückliegen, forderte der Verteidiger eine Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt werden soll. Außerdem sollte er von der Vergewaltigung freigesprochen werden. Der Verteidiger hob abschließend hervor, dass der Angeklagte eine Therapie erfolgreich abgeschlossen hatte. Der zweite Verteidiger betonte die Opferrolle des Angeklagten. Der Frater sei krank und das Verfahren belaste ihn sehr. Auch er zog das Gutachten heran, um die Aussagen des Vergewaltigungsopfers anzuzweifeln. Niemand könne mehr feststellen, was passiert sei. Auch er forderte einen Freispruch vom Vorwurf der Vergewaltigung und eine Bewährungsstrafe.
Emotionales Statement von Betroffenem
Einer der Betroffenen richtete in einem emotionalen Statement abschließend das Wort an den ehemaligen Internatsleiter. Er nehme dem Angeklagten die Entschuldigung nicht ab. "Ich bin froh um jeden, der sich gemeldet hat", sagte der Mann mit belegter Stimme an die Opfer gewandt. Der Angeklagte habe "großen Schaden angerichtet", vor allem, was den Glauben des Mannes betraf. Wenn der Beschuldigte nach den Grundsätzen der Kirche leben würde, hätte er "reinen Tisch gemacht". Der ehemalige Internatsleiter lehnte ein Statement zu den Anschuldigungen ab. Er hörte dem Statement ungerührt zu.
Urteilsbegründung
Das Gericht sprach den Angeklagten der sexuellen Nötigung und sexuellen Missbrauchs in vier Fällen schuldig. Der Ordensmann hatte die Vergewaltigung von Anfang an nicht zugegeben. Deswegen musste sie ihm erst nachgewiesen werden. Es fehlten Beweise und aussagekräftige Zeugenaussagen. Auch das Gutachten habe ergeben, dass die Aussage des Opfers nicht erlebnisbezogen war. Der vorsitzende Richter betonte, dass diese Begründung nicht impliziere, dass der ehemalige Schüler gelogen habe. Aber das Gutachten hatte Zweifel an der Aussage geweckt. Damit gilt: Im Zweifel für den Angeklagten. Daher sprach das Gericht ihm von dem Vergewaltigungsvorwurf frei. Auch weitere Zeugenaussagen wurden zu Gunsten des Angeklagten ausgelegt und stimmten so gar nicht mit der Aussage des Schülers überein. So habe der Frater aufgehört, wenn sie ihn darum gebeten haben. Auch das Geständnis wirkte sich auf das Urteil aus. Die Bewährungszeit wird auf zwei Jahre festgesetzt. Er muss außerdem Sozialstunden ableisten. "Sie müssen anders mit den Opfern umgehen", so der Richter zum Angeklagten. Er hätte nicht in Selbstmitleid baden sollen. Die Kirche müsse als Institution verstehen, dass man sich um die Opfer kümmern müsse. Er würde sich ein Umdenken in der Kirche wünschen.