Manchmal hält das Leben Widersprüche bereit, die kaum zu ertragen sind. An einem Tag also kommen in Marktoberdorf Menschen zusammen, um an ein ermordetes jüdisches Mädchen zu denken. Um der Opfer des Nazi-Terrors zu gedenken. Und an diesem Tag erschießt ein offenbar rechtsradikaler Mann im 500 Kilometer entfernten Halle zwei Menschen nahe einer Synagoge. An Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Bundesminister Dr. Gerd Müller wird später sagen, das Zusammentreffen dieser beiden Ereignisse, verleihe der Ausstellung in Marktoberdorf ein besonderes Gewicht. Denn natürlich ist auch das eine Botschaft der gezeigten Exponate: nie wieder Ausgrenzung von Andersdenkenden und Gewalt gegen Menschen eines anderen Glaubens. Mittwochabend im Rathaussaal. Die eine Hauptperson ist ein kleines, in Marktoberdorf geborenes jüdisches Mädchen: Gabriele (Gabi) Schwarz. Im Alter von fünf Jahren wurde das Kind im Konzentrationslager Auschwitz ermordet. Die andere Hauptperson ist Leo Hiemer. Der in Stiefenhofen geborene und jetzt in Kaufbeuren lebende Autor und Filmemacher beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit der Geschichte von Gabriele Schwarz. Im Jahr 1994 erschien sein preisgekrönter Film „Leni ... muss fort“, der die Lebensgeschichte des jüdischen Pflegekindes erzählt. Heuer hat er ein Buch über das kurze Leben von Gabi veröffentlicht – und nun eine Wanderausstellung konzipiert. „Geliebte Gabi. Ein Mädchen aus dem Allgäu – ermordet in Auschwitz“. Die Ausstellung wird noch an weiteren Orten im Allgäu zu sehen sein. Eröffnet wird sie aber in Gabis Geburtsort. Und die Menschen kommen zahlreich in den Rathaussaal; es muss aufgestuhlt werden. Die Idee für die Ausstellung glomm in Hiemer schon lange. Eigentlich seit 1987, als er das erste Mal von Gabi hörte, nach Stiefenhofen fuhr (wo Gabi bei Pflegeeltern aufwuchs), die ersten Gespräche mit Zeitzeugen führte und einen Schuhkarton voller Fotos des Mädchens sah. Warum ihn dieses Schicksal so sehr berührt? „Weil ein unschuldiges Kind zum Opfer wird.“ Dieses Einzelschicksal stehe stellvertretend für 1,5 Millionen Kinder, die von den Nazis ermordet wurden. Man könne an diesem Fall studieren, wie mancher im Nazi-Regime seinen kleinen Teil dazu beitrug, dass die Vernichtungsmaschinerie am Laufen gehalten wurde. „Dieses kleine Mädchen gerät in eine Höllenmaschine, wird im Stich gelassen und ausgeliefert. So etwas muss einen doch empören!“, hat Hiemer einmal gesagt. Dass die Ausstellung ausgerechnet am höchstem jüdischen Feiertag eröffnet, sei dem Zufall geschuldet, sagt Hiemer. Und ausgerechnet an diesem Tag der „erbärmliche Anschlag“ in Halle. Hiemers Botschaft an diesem Abend: Aufstehen, ankämpfen gegen die Holocaust-Leugner. „Es ist alles aufgeschrieben. Wir haben in den Archiven unser kollektives Gedächtnis. Lassen Sie es uns benutzen.“ Schirmherr der Ausstellung ist Bundesentwicklungsminister Gerd Müller. Mit Blick auf die vielen in der Ausstellung gezeigten Aufnahmen des Mädchens, sagt Müller, die Fotos seien nur schwer zu ertragen. Der Betrachter wisse um das Schicksal. Auf den Fotos jedoch: „Gabi lacht. Furchtlos und voller Vertrauen, wie es nur Kinder können. Das trifft einen ins Herz“, sagt Müller. Der Minister dankt Hiemer für seine „Hartnäckigkeit und Ausdauer“ bei der Recherche der Lebensgeschichte. Hiemer zeige, wie ein fünfjähriges Kind auf Befehl zur Ermordung frei gegeben werde. Das lenke den Blick von den NS-Spitzen auf die kleinen Täter. Hiemer gelinge es, das berührende Schicksal des Kindes in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Er leiste somit einen Beitrag zum Dialog. „Das Erinnern und Gedenken darf niemals sterben“, sagt Müller. Den Anschlag von Halle bezeichnet Müller als „schändliche und unsägliche Tat“. Der Minister nimmt den Vorfall zum Anlass für einen grundsätzlichen Appell: „Wir müssen aufstehen und das Wort erheben gegen Hetze und Ausgrenzung.“ Und auch Bürgermeister Dr. Wolfgang Hell nennt es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, den Ewiggestrigen „entschieden entgegenzutreten“. Hell sagt, mit der Geschichte von Gabi zeichne Leo Hiemer „ein Einzelschicksal, das die Herzen berührt“. Es lasse erahnen, was so viele andere Opfer unter dem Rassenwahn der Nazis erleiden mussten. „Für die Stadt ist es wichtig, die Geschichte von Gabi der Nachwelt zu bewahren.“ Der anschließende Empfang gelte daher dem Gedenken Gabis, aber auch den „Millionen anderen Opfern von Gewalt“. Die Ausstellung zeichnet in fünf Stationen mit Fotos, persönlichen Gegenständen und Info-Texten das kurze Leben der Gabriele Schwarz nach. Die fünf Stationen stehen „für die fünf Lebensjahre des Kindes“, sagt die Kuratorin der Ausstellung, Regina Gropper. Die Ausstellung „Geliebte Gabi“ ist noch bis zum 29. Oktober im Rathaussaal zu sehen. Öffnungszeiten: Di., Do., Sa. von 14 bis 17 Uhr.
Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung lesen Sie in der Samstagsausgabe der Allgäuer Zeitung vom 12.10.2019. Die Allgäuer Zeitung und ihre Heimatzeitungen erhalten Sie in den jeweiligen AZ Service-Centern im Abonnement oder digital als e-Paper