Von Dirk Ambrosch Kempten - Irgendwann im Laufe der stundenlangen Vernehmung wendet sich der Vorsitzende an den Zeugen und sagt: 'Ich merke schon, das ist heute sehr anstrengend für Sie.' Richter Harry Rechner aber muss trotzdem weiter fragen. Am dritten Verhandlungstag gegen den 'Todespfleger' von Sonthofen vor dem Landgericht Kempten ist das Pensum für keinen der Prozessbeteiligten leicht. Das Gericht will sich ein Bild machen von der Arbeitsweise im Krankenhaus von Sonthofen. Möchte erfahren, wer, wann, wie Zugang zu Medikamenten hatte und warum die Tötungsserie im Krankenhaus Sonthofen über eineinhalb Jahre unentdeckt bleiben konnte. Ein komplexes Unterfangen. Erklärungen liefern soll als Zeuge der Dienst habende Oberarzt der Inneren Abteilung der Klinik Sonthofen. In seinen Verantwortungsbereich fallen die 29 Todesfälle, die dem ehemaligen Krankenpfleger Stephan Letter zur Last gelegt werden. Von Januar 2003 bis zum Juli 2004 arbeitete der heute 27-jährige Angeklagte auf der Inneren Abteilung. In diesem Zeitraum konnte sich der Oberarzt, 'einen Eindruck machen, von seiner Art'. Der Mediziner schildert den Angeklagten Letter als 'relativ verschlossen und nicht besonders kommunikativ'. Im Pflegeteam war der Angeklagte 'nicht besonders akzeptiert'. Letter habe seine Arbeit jedoch ordentlich und fleißig gemacht. Übergriffe oder aggressives Verhalten des Krankenpflegers gegenüber Patienten seien ihm nicht bekannt geworden, sagt der Zeuge.
Das Verhältnis zwischen Arzt und Pfleger bezeichnet er als 'neutral', wenngleich er sich an eine Auseinandersetzung mit dem Pfleger erinnert. 'Doch es ging hierbei nur um eine Belanglosigkeit.'Ein zentraler Punkt im Verfahren gegen Stephan Letter ist die Handhabung der Medikamentenvergabe im Klinikum Sonthofen im Zeitraum der Todesfälle von Februar 2003 bis Juli 2004. Der Oberarzt schildert, dass Schränke mit den Medikamenten 'für alle Mitarbeiter frei zugänglich waren'. Dies sei erforderlich, um in Notfällen schnell reagieren zu können. Ausgenommen davon waren Betäubungsmittel, die speziell gesichert wurden. Als Ende Mai 2004 eine Schwester den Verlust mehrerer Ampullen bemerkte, wurden auch die Medikamentenschränke versperrt. Die Schlüssel waren fortan nur dem Personal zugänglich. Den Verdacht, dass der Angeklagte mit dem Verschwinden der Medikamente zu tun hat, hegte das Pflegepersonal bereits seit längerem. Nach Angaben des Oberarztes stellten die Pflegekräfte ihrem Kollegen im Juli 2004 schließlich eine 'Falle': Vor und nach dem Nachtdienst waren die Narkosemittel gezielt kontrolliert und somit das Fehlen von Ampullen festgestellt worden. Daraufhin sei er auf den Medikamentendiebstahl hingewiesen worden, sagt der Oberarzt. Als wenige Tage später auch noch die Bestellung des sehr selten verwendeten, Muskel lösenden Mittels 'Lysthenon' auffiel, sei aufgrund 'dieser Brisanz' sofort die Krankenhausleitung informiert und Anzeige erstattet worden. 'Lysthenon' wird nach Angaben des Oberarztes zur Narkose und Beatmung eingesetzt. Daneben werde es seiner Kenntnis nach nur zu 'Exekutionen und zur Sterbehilfe' verwendet. Eine Verabreichung dieses Mittels führt bei vollem Bewusstsein zum Aussetzen aller Muskelfunktionen.