Niedrigster Wasserstand seit fast 200 Jahren Von Peter Szarafinski Westallgäu/Lindau. Der Pegel des Bodensees fällt jeden Tag um ein, zwei Zentimeter. Seit Mitte Juni. Deswegen können Rollstuhlfahrer nicht auf Schiffe und Wasservögel nicht ins Schilf, werden Mücken zur Seltenheit und das Badewasser sauber. Außerdem ist der Bodensee ungewöhnlich warm. Gestern meldete Konstanz einen Minus-Rekord. Seit Beginn der systematischen Aufzeichnungen 1817 wurde im Sommer kein so niedriger Pegel mehr gemessen: 2,83 Meter. Das langjährige Mittel liegt um diese Zeit über einen Meter darüber. Durch die lang anhaltende Trockenheit geht dem See der Nachschub aus. Der Zweckverband Bodenseewasserversorgung, der mit dem aus 60 Meter Tiefe gepumpten Nass fast vier Millionen Baden-Württemberger versorgt, zapft täglich bis zu 530000 Kubikmeter ab. Laut Geschäftsführer Hans Mehlhorn sind das drei Prozent der Menge, die jeden Tag den Rheinfall hinabstürzt. Für den Pegel seien das nur wenige Milimeter. Die Temperatur des Sees lag vergangene Woche bei 26,5 Grad, sagt Dr. Reiner Kümmerlin vom Institut für Seenforschung in Langenargen. Das sind zwei Grad über dem Durchschnitt. Je höher die Temperatur, desto höher auch die Wassermenge, die im Bodensee verdunstet. Kümmerlin schätzt sie auf dieselbe Größenordnung wie die Trinkwasserentnahme. Für Kümmerlin ist der niedrige Pegel ein 'Extremereignis', mit man nur 'wenig Erfahrung' habe.
An manchen Stellen schwemmte es Algenteppiche an, zwei bis drei Meter lang und bis zu 30 Zentimeter dick. 'Das stinkt natürlich fürchterlich', so der Wissenschaftler. Wasservögel, die gerne in den Schutz der Schilfgürtel schwimmen, müssen eine andere Fortbewegungsart wählen. Das Wasser hat sich so weit zurückgezogen, dass das Schilf im Trockenen steht. Den Mücken fehlen damit ihre Brutstätten. Auf der Verliererseite stehen auch Barsche und andere ufernah lebenden Fische sowie Insekten und Weichtiere, die kaum ausweichen können. Unter letzteren auch eine Schneckenart, die denjenigen Egeln als Wirt dient, die beim Menschen Badedermatitis auslösen. Diese Krankheit hatte erst stark zugenommen. 'Aber jetzt ist Ruhe an der Front', sagt Kümmerlin. Keine Schnecken, keine Bakterien. Ohnehin gebe es ungewöhnlich wenige Bakterien im Bodensee. Auch das liege an der Trockenheit, erklärt Kümmerlin. Die meisten Bakterien gelangen durch Klärwerke in den See. Weil nun die Regenfälle fehlten, die die Klärbecken zum Überlaufen bringen können, floss nur gereinigtes Wasser in den Bodensee. Der sinkende Wasserstand trifft auch Rollstuhlfahrer, die mit den Bodensee-Schifffahrtsbetrieben eine Runde auf dem See drehen wollen. Weil in einigen Häfen die Rampen vom Kai zum Schiff zu steil werde, dürfen sie dort weder ein- noch aussteigen. Davon betroffen sind unter anderem Konstanz, Mainau, Friedrichshafen, Langenargen, Nonnenhorn, Wasserburg und Bad Schachen. Rekord-Pegel am Bodensee und kein Ende in Sicht: Üblicherweise fällt der Wasserspiegel weiter bis Februar oder März. Kümmerlin schätzt, dass es noch einen halben bis einen ganzen Meter nach unten gehen könnte - wenn der Herbst nicht Unmengen von Regen bringen sollte.