Die Musik ist laut, der Bass dröhnt. Bunte Lichter tanzen über die Menschenmenge hinweg, die sich im Takt der Musik bewegt. Eine Szene wie sie allwöchentlich in der Allgäuer Clubszene zu finden ist, besonders jetzt im Fasching. Die Ausgelassenheit birgt aber auch Gefahren.
Auch im Allgäu kommt es immer wieder zu Vorfällen mit K.o.-Tropfen. Darauf will der Aufklärungskampagne gegen K.o.-Tropfen ein. Denn nur ein kurzer Moment der Unachtsamkeit erhöht das Risiko, Opfer eines Übergriffs zu werden: Bereits eine geringe Menge der unsichtbaren, geschmacks- und geruchsneutralen Substanz im Getränk kann schlimme Folgen für die Betroffenen haben.
"Vergewaltigungsdroge"
K.o.-Tropfen (Knockout-Tropfen) sind ein Gemisch aus narkotisierend wirkenden Stoffen. Oft handelt es sich um den Stoff GHB, Gamma-Hydroxybuttersäure. Es ist daher nicht weit her geholt, dass die Tropfen auch als "date rape drug", als Vergewaltigungsdroge bezeichnet werden. Auch für andere Straftaten, beispielsweise Raub, nutzen Täter K.o.-Tropfen, um das Opfer auszuschalten.
Ein Opfer berichtet: "Wir wollten nur Spaß haben"
"Es war ein ganz normaler Abend mit meinen Mädels", erzählt Sabine H. (Name geänd.) (24) aus Kempten. Ein Abend, der eigentlich hätte ruhig verlaufen sollen. Es war ursprünglich nicht einmal geplant, noch wegzugehen. Doch um Mitternacht kommt Feierlaune auf. Die fünf Mädels trinken in Sabines Wohnung noch ein Glas Hugo und machen sich auf den Weg in die nur fünf Minuten entfernte Kemptener Disco. Ein bis zwei Stunden Party, nicht viel trinken, ein bisschen tanzen: Das ist der Plan.
Während der ersten Cocktail-Runde an der Bar lernen die Mädchen eine Gruppe Jungs kennen. Man unterhält sich, findet sich sympathisch. "Wir haben also noch eine Runde bestellt, uns unterhalten, ausgetrunken und sind dann zusammen auf die Tanzfläche." Doch schon nach wenigen Minuten merkt Sabine, dass etwas nicht zu stimmen scheint. Sie schiebt das Gefühl zur Seite. Denn sie hat Spaß, tanzt mit ihren Freundinnen und den Jungs.
Außer Gefecht gesetzt
Plötzlich kippt bei ihr die Stimmung: Sie fühlt sich, obwohl sie an dem Abend nur relativ wenig Alkohol getrunken hatte, stark benebelt. "Mir war plötzlich alles zu viel. Es war zu laut, zu warm, die Lichter waren zu hell und zu bunt, es waren zu viele Menschen um mich." Sabine bestellt ein Wasser, es fällt ihr schwer zu stehen, sie setzt sich. Ihre Freundinnen wundern sich über ihren Zustand – bringen Sabine in den Außenbereich der Diskothek an die frische Luft. Der Weg ist ewig weit, zu eng…
Draußen angekommen will sie sich eine Zigarette anzuzünden, dann klappt sie in sich zusammen. Sabine fällt bewusstlos zu Boden. "Ich war einfach weg." Die Freundinnen helfen ihr, sich aufrecht hinzusetzen und lehnen sie an eine Wand. "Dort kauerte ich und hatte das Gefühl, mich selber nicht mehr kontrollieren zu können. Mein Kopf war so unglaublich schwer, dass ich ihn nicht halten konnte. Auch meine Augen konnte ich nicht mehr öffnen – es war mir einfach unmöglich." Von der Gruppe Männer fehlte jede Spur.
Totaler Kontrollverlust
Um Sabineherum wird es dunkel, Geräusche dringen nur noch dumpf an sie heran. "Ich konnte mit geschlossenen Augen zwar alles um mich herum einigermaßen mitbekommen, aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich hatte keine Kraft. Ich war wie von Nebel umhüllt."
Von diesem Moment an weiß sie nicht mehr viel. "Meine Freundinnen erzählten mir, dass die Türsteher gekommen sind. Sie dachten natürlich, ich sei betrunken. Einer der Männer nahm mich über die Schulter und trug mich nach draußen. Daran konnte ich mich nach den Erzählungen wieder vage erinnern. In dem Moment war es mir aber völlig gleichgültig, wer mich trug, was mit mir geschieht und wo ich bin. Ich nahm es wahr, doch obwohl ich beim Tragen Schmerzen hatte, kümmerte mich das keineswegs."
Die Freundinnen verständigen einen guten Freund von Sabine, der sofort kommt, um sie nach Hause zu bringen. Zusammen hieven sie die immer noch Regungslose in ein Taxi, legen sie quer auf die Rückbank. "Ich hatte es ja nicht weit nach Hause, aber die Fahrt kam mir wie eine Ewigkeit vor." Der Freund bringt sie in ihre Wohnung, legt sie auf die Couch. Dort schläft sie 14 Stunden durch.
Am Tag danach: Nicht mehr nachweisbar
"Als ich wieder aufgewacht bin, wusste ich erstmal gar nicht was los ist. Ich wollte aufstehen, doch konnte ich nicht. Ich hatte starke Kopfschmerzen, sonst ging es mir körperlich scheinbar gut." Erst als es Sabineendlich gelingt aufzustehen, wird ihr schlecht. Sie muss sich stundenlang immer wieder übergeben. Ein Arzt diagnostiziert später eine Gehirnerschütterung, die vermutlich vom Sturz kommt, und äußert den Verdacht auf K.o.-Tropfen. Nachgewiesen werden konnte allerdings nichts. Es war schon zu lange her.
Deutschlandweite Aktion
Wie häufig es im Allgäu zu solchen Vorfällen kommt, ist schwer zu sagen, berichtet Nicole Sattler, Präsidentin des Kemptener Ladies' Circle 19, ein Zusammenschluss von 13 Frauen zwischen 29 und 36 Jahren. Ärzte aus dem Kemptener Klinikum, mit denen die Frauen in Verbindung stehen, berichten von bis zu fünf Fällen pro Wochenende. Dabei sind Frauen wie Männer gleichermaßen betroffen. Im Körper festzustellen ist die Droge allerdings nur sehr kurz: Innerhalb von zwölf Stunden ist sie bis unter die Nachweisbarkeitsgrenze abgebaut.
Die Kemptener "Ladies" sind Teil eines weltweiten Netzwerks an Ladies' Circles mit insgesamt etwa 13.000 Mitgliedern, dessen Ursprung in Großbritannien liegt. In Deutschland zählt die Organisation momentan rund 800 aktive Mitglieder zwischen 18 und 45 Jahren.
Die "Ladies" engagieren sich unter anderem stark für den Kampf gegen K.o.-Tropfen. Nicht nur in Kempten, sondern deutschlandweit. Der Aachener Notruf für vergewaltigte Frauen und Mädchen e.V. hat die Kampagne "K.O.cktail? Fiese Drogen im Glas" im Jahr 2006 gestartet. Seit zwei Jahren unterstützen die deutschen Ladies' Circles die Kampagne als nationales Service-Projekt. Sie wollen vor allem eins: Aufklären. Nicole Sattler: "Aufklärung und Vorbeugung sind bei dem Thema einfach der beste Schutz."
Erschreckend hohe Fallzahlen im Allgäu
Etwa 70 Prozent der Leute, mit denen die "Ladies" an ihren Info-Ständen sprechen, sind selbst bereits Opfer von K.o.-Tropfen geworden oder kennen zumindest eine Person im Freundes- oder Bekanntenkreis, die Opfer wurde. "Erschreckend hoch" findet Nicole Sattler diese Zahl, gerade für eine so ländliche Gegend wie das Allgäu. "Man rechnet in Berlin, München, Köln damit, aber nicht unbedingt bei uns."
Zusammen kommen, zusammen feiern, zusammen gehen
Als einen großen Erfolg verbuchen Nicole Sattler und die Ladies, dass auf ihre Initiative hin mittlerweile zwölf Schulen im Allgäu im Unterricht über K.o.-Tropfen sprechen. Die Grundbotschaft der Ladies: "Zusammen kommen, zusammen feiern und zusammen wieder gehen." Das heißt auch, dass man aufeinander aufpasst, dass eine Person die Getränke im Auge behält, oder dass man die Getränke einfach gleich mitnimmt, anstatt sie stehen zu lassen. Wichtig ist auch, keine Getränke von Unbekannten anzunehmen, besonders wenn man nicht sieht, was zwischen der Bar und der Übergabe des Getränkes passiert.
Nicole Sattler ist sich durchaus bewusst, dass es nicht immer leicht ist, ein angebotenes Getränk auszuschlagen. "Es ist ein reiner Sicherheitsgedanke dahinter. Doch wenn man dankend ablehnt und es dem anderen erklärt, dann würde es auch jeder verstehen."
In Zukunft noch vorsichtiger
Auch Sabine ist seit dem Vorfall beim Weggehen vorsichtiger geworden. Ich war schon davor immer vorsichtig und habe mein Getränk nie unbeaufsichtigt stehen lassen, man kennt ja die Geschichten. Aber jetzt versuche ich noch besser auf mein Getränk aufzupassen, lege am liebsten immer die Hand darüber.
Außerdem quälen sie seitdem viele Fragen. Wer war es? Waren es die Jungs, die doch eigentlich sympathisch wirkten? Wieso hat sie nicht bemerkt, wie die Tropfen in ihr Glas gekommen sind? War es vielleicht nur ein Versehen? Und natürlich stellt sie sich auch die Frage nach dem was wäre wenn…. Was wäre, wenn ihre Freundinnen nicht in der Nähe gewesen wären, wenn ihr jemand etwas angetan hätte? Darüber möchte ich gar nicht nachdenken, sagt Sabine. Das Schlimme ist, ich hätte alles mitbekommen, aber es wäre mir einfach egal gewesen.