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Ich will mich nicht abkapseln

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Ich will mich nicht abkapseln

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    Von Sylvia Rustler Babenhausen Auf einem Couchtisch steht ein Glas Wasser mit einem Strohhalm. Daneben, auf dem Ka- napee, liegt Gernot Fischer, 47. Sein linker Arm ruht schlaff auf seiner Hüfte, zwischen den regungslosen Beinen klemmt ein Kissen. Über ihm die Portraits seiner beiden Kinder: Alexandra und Ralph, 14 und 19. Ab und zu dreht der Vater den Kopf in Richtung der Fotos, der Rest bleibt bewegungslos. Vom Oberkörper mit dem roten T-Shirt bis zu den blitzblanken weißen Turnschuhen. Früher war Fischer Kraftsportler. 'Jetzt sind meine Bauchmuskeln weg', sagt er. 'Ich liege nun seit fünf Monaten in der Klinik. Da geht einem einiges durch den Kopf. Und manchmal, ja manchmal, da bin ich am Boden.' Zur Jahreswende blickt er zurück. Zurück auf ein Jahr, in dem sich sein Leben komplett verändern sollte. Alles beginnt am Sonntag, 31. Juli, um 18.50 Uhr. Der 47-Jährige ist mit dem Motorrad unterwegs. Er hat noch eine kurze Runde gedreht und will jetzt heim, nach Babenhausen. Es ist nicht mehr weit. Da biegt ein 18-Jähriger mit dem Auto aus einem Feldweg auf die Straße. Es knallt. Fischer fliegt 30 Meter durch die Luft, schlägt auf und rutscht 20 Meter über den Asphalt.

    'Filmriss' In diesem Moment wartet Ulrike Fischer zu Hause mit Tomatenbroten auf ihren Mann. Dann eine Sirene, ein Hubschrauber, ein Poli- zist an der Tür. 'Danach habe ich einen Filmriss', erzählt die Frau, die sich später in der Unfallklinik Murnau wiederfindet. Bis ihr Mann wieder ein klares Bewusstsein erlangt, vergehen fünf Wochen. In dieser Zeit starrt er seine Frau nur fragend an, desorientiert, mit Medikamenten voll gepumpt. Ein Luftröhrenschnitt verhindert jeden Austausch. Vielleicht wird Fischer nie mehr sprechen können. Die Ärzte befürchten eine Lähmung ab Ohrhöhe. 'Das war eine furchtbare Situation': Die Stimme von Ulrike Fischer zittert, in ihren Augen sammeln sich Tränen. Doch ihr Mann hat noch Glück im Unglück: die Verletzung am Hals verwächst und als er nach fünf Wochen wieder zu sich findet, kann er sprechen und den Kopf bewegen. Doch mit welchem Körper er künftig leben muss, realisiert er noch nicht. Querschnittsgelähmt. Beide Beine und der linke Arm gefühllos. 'Einmal habe ich zu meiner Tochter gesagt, hol deine Jacke, wir gehen,' erzählt er fast beschämt und erinnert sich an das verwirrte Kindergesicht, das ihm nur mit hilflosen Blicken antworten konnte. 'Zuerst habe ich alles verdrängt.'Nur langsam begreift er, was er heute weiß: 'Es kann wieder was zurückkommen. Ich werde aber immer einen Rollstuhl brauchen. Jetzt wäre es an der Zeit, dass wieder was kommt, aber es kommt nichts.' Jede Sekunde wartet Gernot Fischer nun auf irgendein Gefühl in seinen Gliedmaßen. Und ist es auch nur im kleinen Zeh. 'Ohne Hoffnung, nein, da ging' gar nichts mehr,' flüstert er, atmet tief durch, dreht das Gesicht zur Wand. Doch die Hoffnung wird nicht selten bitter enttäuscht. Bei einem Krankenbesuch etwa, da zuckt auf einmal sein Fuß. 'Mama, Mama, Papa hat mit dem Fuß gewackelt', ruft die Tochter. Doch die Worte der Ärzte sind ernüchternd. 'Das sind Spastiken, sonst nichts, haben sie gesagt,' erinnert sich Ulrike Fischer.

    Dicker Ordner mit Formalitäten Sie streicht über einen dicken Ordner. Die Formalitäten. Es muss geklärt werden, wie es finanziell weiter geht. Der Autofahrer werde Schmerzensgeld zahlen müssen, glauben die Fischers. Aber was kann Geld gut machen? Hat man Hassgefühle? 'Nein', betont Gernot Fischer entschieden. 'Laut Polizei hat der Junge 100 Prozent Schuld,' fährt er fort, 'aber Hass macht nichts besser. Ich möchte sein Leben nicht auch noch zerstören'. Gernot Fischer hadert nicht mehr mit dem Schicksal. Er versucht, ihm positive Seiten ab- zugewinnen. 'Das Verhältnis zu meiner Fa- milie ist besser geworden. Früher habe ich mich kaum mit ihr unterhalten. Ich habe viel verkehrt gemacht,' murmelt er und denkt an die Kraft, die seine Frau für ihn aufbringt. 'Das ist nicht selbstverständlich. Andere Gelähmte bekommen sofort die Scheidungspapiere. Das habe ich in Murnau gehört.'

    Kissen zwischen den Beinen In der Unfallklinik muss Fischer noch bis Mitte Januar bleiben. Sein Aufenthalt zu Hause ist nur ein Besuch. In dieser Nacht wird seine Frau aufstehen, um ihn zu drehen, damit er keine Druckstellen bekommt. Und sie wird die Kissen zwischen seinen Beinen zurecht rücken. Kein Knochen darf auf dem anderen liegen. Ein Pflegedienst wird ihr helfen, wenn ihr Mann ganz nach Hause kommt. Und für diese Zeit hat der ehemalige Lastwagen- und Bagger-Fahrer schon Pläne. Die große schwarze Leere, die sich anfangs auftat, malt er nun mit frohen Farben aus. 'Ich will reisen', sagt der Babenhausener. In eine europäische Metropole vielleicht. Jedenfalls dorthin, wo das Leben pulsiert. 'Denn ich will mich nicht abkapseln. Ich will mit den anderen mitleben.'

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